Justiz-Debatte bei "Hart aber fair" Ein Richter stellt den "Bild"-Chef bloß
Ist unsere Justiz zu lasch? "Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt fordert bei "Hart aber fair" härtere Strafen, muss sich jedoch von einem Richter belehren lassen.
Die Gäste:
- Jens Gnisa, Vorsitzender des Deutschen Richterbundes, und Direktor des Amtsgerichts Bielefeld
- Julian Reichelt, "Bild"-Chefredakteur
- Gisela Friedrichsen, Gerichtsreporterin für "Die Welt"
- Roman Reusch, AfD-Bundestagsabgeordneter, bis 2017 Staatsanwalt in Berlin
- Gerhart Baum, Rechtsanwalt, FDP-Bundesinnenminister von 1978 bis 1982
Das Thema:
Laut Umfragen findet rund die Hälfte der Deutschen Gerichtsurteile meist zu milde. 57 Prozent fordern härtere Jugendstrafen. Sind die Richter zu nachgiebig, die Gesetze zu milde? Oder liegt es daran, dass Gerichte überlastet sind und damit zu wenig Zeit bleibt für gut geführte Verfahren? Ein klassisches Aufregerthema aus der Themen-Mottenkiste.
Vor allem aufgrund der Art der Straftaten: Jugendliche, die einen Obdachlosen angreifen, Männer, die wiederholt Kinder missbrauchen.
Der Frontverlauf:
Eine Gruppe junger Syrer stand im vergangenen Jahr vor Gericht, weil einer von ihnen in einem Berliner U-Bahnhof versucht hatte, einen schlafenden Obdachlosen anzuzünden. Die Staatsanwaltschaft forderte eine Verurteilung wegen versuchten Mordes. Der Haupttäter wurde aber nur wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt und musste für zwei Jahre und neun Monate in Haft. Ein Zeichen zu lascher Justiz?
Für den Bielefelder Richter Jens Gnisa ist eine "derartige Abweichung" zwischen der Forderung der Staatsanwaltschaft und dem Richterurteil normal. "Man muss schauen, was wollte ich als Täter wirklich." Für "Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt war die Antwort klar: Den Mann anzünden natürlich. Alles andere sagten nur "Richter, die ihre Lebenserfahrung in den Hintergrund gedrängt haben", so Reichelt.
Ausgerechnet Reichelts Kollegin aus dem Hause Springer, die "Welt"-Reporterin Gisela Friedrichsen, klärte die Sache auf: "Sie haben ein brennendes Taschentuch auf die Bank geworfen, auf der der Obdachlose geschlafen hat." In den Medien sei hingegen von Anfang an berichtet worden, da sei ein Mensch angezündet worden. Dem Mann sei hingegen "nichts passiert". Bliebe noch das Strafmaß.
Das fand der AfD-Politiker und frühere Berliner Staatswanwalt Roman Reusch freilich viel zu gering: "Eine Bewährungsstrafe wird nicht ernst genommen." Die Täter seien oft wenig intelligent und verstünden nur Härte. Dem stellte Richter Gnisa Zahlen entgegen: "Wir haben zwei Drittel der Jugendkriminalität von vor zehn Jahren. Das ist ein Erfolg." Der frühere FDP-Innenminister Gerhart Baum mahnte: "Richtig kriminalisiert werden sie im Knast." Ohnehin sei der Wille des Volkes, auf den Plasberg rekurrierte, zu subjektiv: "Zu Zeiten der RAF waren 70 Prozent der Deutschen für die Todesstrafe. Vorsicht!"
Aufreger des Abends:
"Sperrt ihn endlich für immer weg!", titelte die "Bild"-Zeitung Anfang Februar und zeigte einen verurteilten Straftäter mit vollem Namen und Foto. Der Mann hat wiederholt Kinder sexuell missbraucht, bekam schon mehr als zehn Jahre Haft, aber nie eine Sicherungsverwahrung. Im letzten Prozess bekam er eine Strafminderung aufgrund der laut Gericht "stigmatisierenden Berichterstattung". Dazu sagte Julian Reichelt: "Ich würde es immer wieder so tun", und kam jetzt erst richtig in Fahrt: "Einen Bürger, der zum ersten Mal vergewaltigt, den gibt es nicht." Immer, wenn man von einem "Kinderschänder" lese, dann heiße es, er sei Wiederholungstäter.
Auch hier widerlegte ihn Jens Gnisa schnell mit Zahlen: Jeder fünfte Straftäter in Deutschland sei aufgrund sexuellen Missbrauchs von Kindern in Sicherungsverwahrung, während nur jedes 400. Urteil aufgrund solcher Straftaten ergehe. "Man sieht also, wie überproportional hart, und auch zu Recht, die Justiz mit sexuellem Missbrauch von Kindern umgeht." Auch der Mann im aktuellen Fall sei höchstwahrscheinlich in Sicherungsverwahrung gekommen. Allerdings habe er zuletzt nur wegen des Verstoßes gegen Auflagen vor Gericht gestanden und nicht wegen sexuellen Missbrauchs.
Mit Fakten war Reichelt, der sich immer mehr in Rage redete, dennoch nicht zu überzeugen: Zwei Jahre Mindeststrafe für sexuellen Missbrauch seien viel zu wenig. Bisweilen verkam die Sendung zum Strafrechtsseminar, weil Reichelt nicht einmal einsehen wollte, warum manche Täter milder bestraft würden als andere: "Es kann sein, dass einer mit Minderjährigen zu Hause Pornofilme schaut", klärte ihn Friedrichsen auf, "das kann nicht so schlimm sein, als wenn sie jemand tatsächlich missbraucht."
Einigkeit herrschte immerhin in dem Punkt, Ermittlern zu erlauben, computergenerierte Kinderpornofotos hochzuladen, um damit Täter anzulocken. Das ist nämlich aktuell verboten. Und die überlastete Justiz? Laut Einspieler ist die Zahl der Verfahren an Amts- und Landgerichten in den vergangenen zehn Jahren gesunken, während es dort immer mehr Richter gab. Friedrichsen zufolge sind jedoch "die Verfahren viel komplexer geworden". Das liege an einer Zunahme der Straftatbestände und einer Verteidigung, die alle Register ziehe und damit die Verfahren in die Länge ziehe.
Was übrig bleibt:
Auch, wenn es Medien wie "Bild" immer wieder anders darstellen: Unser Strafrechtssystem funktioniert. Dennoch dauern die Verfahren zu lange, da war sich die Runde einig. Für konkrete Vorschläge, wie man die Gerichte entlasten könnte, blieb kaum Zeit. Schwarzfahren nicht mehr als Straftat zu führen, ist eine Option. Die Legalisierung von Cannabis eine weitere. Immerhin 177.000 Cannabis-Delikte gab es im Jahr 2016, rund 70.000 weniger als vor Gericht verhandelte Schwarzfahr-Fälle.
Diese Diskussion gehört aber, wie Plasberg richtig anmerkte, in eine eigene Sendung. Schade, dass die nie kommt. Genauso wie Talkrunden zu Wirtschaftskriminellen an einer Hand abzuzählen sind. Vielleicht, weil Sexualstraftäter die bessere Quote bringen?