Rausgeflogen oder abgehauen Junge Menschen ohne eigene Bleibe
Immer mehr Menschen in Deutschland sind wohnungslos – darunter auch viele junge Leute. Längst nicht alle von ihnen leben auf der Straße.
Lydia übernachtet seit fast einem dreiviertel Jahr bei verschiedenen Freunden in Dortmund. Ein eigenes Zimmer hat die 20-Jährige aber nirgendwo. "Man kommt sich die ganze Zeit so vor, als ob man seinen Freunden auf der Tasche liegt und das ausgleichen müsste", berichtet die wortgewandte junge Frau traurig. Aber: "Ohne Arbeit keine Wohnung – und umgekehrt."
Mit Unterstützung der von Spenden finanzierten Off Road Kids Stiftung für Straßenkinder und junge Obdachlose hat sich Lydia inzwischen in Dortmund angemeldet und bekommt Hartz IV. Jetzt sucht sie eine Wohngemeinschaft und will unbedingt das Abitur nachholen.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe schätzt, dass es in Deutschland bis 2018 mehr als eine halbe Millionen betroffene Menschen geben wird. Ihr Durchschnittsalter liege zwischen 40 und 50 Jahren, sagt die stellvertretende Geschäftsführerin, Werena Rosenke. Etwa jeder Fünfte sei jünger als 25 Jahre. "Es gibt keine Anzeichen, dass der Anteil der Jüngeren weniger wird."
"Couch-Hopping" statt festem Wohnsitz
Unabhängig vom Alter steigt in den Großstädten der Republik die Zahl der Wohnungs- und Obdachlosen, wie auch eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur ergab. Viele von ihnen kommen aus Osteuropa. Wie viele junge Menschen kein festes Dach über dem Kopf haben, wissen die Städte gar nicht genau. "Diese Personengruppe wird den Behörden häufig deswegen nicht bekannt, weil sie über "Couch-Hopping" bei Freunden und Bekannten und anderen möglicherweise prekären Unterkünften nicht bei den entsprechenden Stellen vorstellig wird", sagt Enrico Ickler von der Hamburger Sozialbehörde.
In München geht das Sozialreferat von rund 8600 Wohnungslosen aus, darunter ungefähr 1600 Minderjährige. Experten meinen aber, die Zahl der Menschen ohne eigene Wohnung sei höher – Tendenz steigend.
Nach einer Erhebung des Deutschen Jugendinstituts (DJI) haben in Deutschland ungefähr 37.000 junge Menschen (bis 26 Jahre) keinen festen Wohnsitz. Ungefähr zwei Drittel von ihnen seien Jungen, etwa jeder Fünfte sei minderjährig. Die meisten finden wie Lydia bei Freunden Unterschlupf oder schlafen in Notunterkünften; einigen bleibt nur die Straße. Die größte Gruppe der obdachlosen jungen Menschen ist der Studie zufolge die der 18-Jährigen.
Sozialarbeiter fordern Unterstützung vom Jugendamt über das 18. Lebensjahr hinaus
"Da mit Eintritt der Volljährigkeit die Unterstützung des Jugendamts meist endet, wächst dann das Risiko, dass gefährdete Jugendliche gänzlich und unbemerkt aus den Hilfestrukturen herausfallen", stellt das DJI fest. "Die Jugendhilfe hört zu früh auf", sagt auch Jens Elberfeld, Leiter einer der vier Streetwork-Station der Stiftung Off Road Kids. Grund seien oft die klammen Kassen der Kommunen. Diese Lücken müssten durch Bundesmittel ausgeglichen werden. "Es darf nicht sein, dass es was komplett anderes ist, wenn jemand in Duisburg zu Hause rausgeworfen wird als in Dortmund."
Familiäre Probleme, schlechte Erfahrungen mit einem Stiefelternteil, psychische Probleme und Suchterfahrungen – vor allem mit Cannabis und Amphetaminen – seien meist die Gründe für die verdeckte Obdachlosigkeit junger Menschen, sagt der Dortmunder Sozialarbeiter Elberfeld. "Das trifft Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft."
Verheerende Nachwirkung psychischer Gewalt im Elternhaus
Lydia, die bei einer wohlhabenden und psychisch kranken Mutter in einem großen Haus aufwuchs, erzählt: "Ich habe zwei Jahre gebraucht, um den Familientherapeuten klar zu machen, was zu Hause eigentlich los ist." Letztlich gelang es ihr per Gericht durchzusetzen, dass ihrer Mutter das Sorgerecht entzogen wurde. Mit 16,5 Jahren zog sie aus und lebte bei einer Tante – unterstützt von einem gesetzlichen Vormund und Betreuern.
Als das alles mit 18 Jahren endete und sie allein in einer Wohnung saß, überrollten sie die eigenen psychischen Probleme: Sie musste ihr Fachabitur kurz vor dem Ende abbrechen, obwohl sie unbedingt Sozialarbeit studieren will. Wie verheerend und nachhaltig psychische Gewalt im Elternhaus wirke, werde oft nicht gesehen, sagt Elberfeld, den Lydia etwa einmal in der Woche kontaktiert.
Ohne Klassenverband und Noten zum Schulabschluss
Der Stiftung sei es seit 1994 gelungen, für mehr als 4500 Ausreißer, Straßenkinder, obdachlose und wohnungslose junge Menschen eine dauerhafte Perspektive zu finden, berichtet Elberfeld. Seit Jahresanfang gibt es auch ein von der Deutschen Bahn Stiftung finanziertes Chat-Angebot (https://sofahopper.de), das entkoppelten junge Menschen Hilfe vermittelt werden soll. "Wir finden mit Dir eine bessere Lösung als ein fremdes Sofa", verspricht das Beratungsangebot. 166 Menschen hätten es bereits genutzt, berichtet Elberfeld. 130 von ihnen hätten sich selbst gemeldet, bei den anderen kam der Kontakt vor allem durch Verwandte zustande.
Jungen Wohnsitzlosen ohne Schulabschluss soll ein anderes Projekt der Off Road Kids Stiftung helfen. Dabei werden sie in Zusammenarbeit mit der "Flex-Schule" in Baden-Württemberg – ohne Klassenverband und Noten, aber mit Begleitung von Sozialarbeitern – auf externe Hauptschul- und Realschulabschlüsse vorbereitet. Zeit spielt dabei keine Rolle. Wenn Probleme auftauchen, kann die Schule erstmal unterbrochen und eine Lösung gesucht werden.