"Rekord seit der Vereinigung" Armutsquote in Deutschland erreicht neuen Höchststand
Die Armut in Deutschland ist auf dem Vormarsch: "Deutschland hat mit 15,7 Prozent Armutsquote einen neuen Höchststand, einen neuen Rekord seit der Vereinigung erreicht", sagte der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, Ulrich Schneider, bei der Vorstellung des jährlichen Armutsberichts.
Der Bericht, der auf den Zahlen aus dem Jahr 2015 basiert, nutzt den auch in offiziellen Statistiken verwendeten sogenannten relativen Einkommensarmutsbegriff. Als arm gelten dabei alle Personen, die in Haushalten leben, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens aller Haushalte erzielen. Für ein Paar ohne Kinder setzte der Verband für 2015 beispielsweise als Armutsschwelle 1413 Euro monatlich an.
Armutsquote in Berlin besonders stark gestiegen
Besonders stark stieg dem Armutsbericht zufolge die Quote im Vergleich zum Vorjahr in Berlin an, wo es eine Zunahme um 2,4 Prozentpunkte auf 22,4 Prozent gab. Im Zehn-Jahres-Vergleich weise Nordrhein-Westfalen den stärksten Anstieg auf, und dort vor allem das Ruhrgebiet, wenngleich die Quote 2015 im bevölkerungsreichsten Bundesland stagniert habe.
"Das Ruhrgebiet und Berlin müssen daher als die armutspolitischen Problemregionen Deutschlands betrachtet werden", sagte Schneider. Alle ostdeutschen Bundesländer bis auf Berlin hätten im zurückliegenden Jahrzehnt ihre Armutsquoten merklich abgebaut, wenn auch weiter auf einem hohen Niveau.
Einschreiten des Staats gefordert
Schneider begrüßte es ausdrücklich, dass sich Ungleichheit und Armut als ein zentrales Thema für den Wahlkampf zur Bundestagswahl am 24. September abzeichneten. Das sei "der Lage in Deutschland mehr als angemessen".
Der Paritätische Wohlfahrtsverband fordert ein energisches Einschreiten des Staats, um die Armutsentwicklung umzukehren. Es sei Zeit für einen "sozial- und steuerpolitischen Kurswechsel". Erforderlich seien eine andere Steuer- und Finanzpolitik sowie Maßnahmen beim Wohnungsbau, in der Arbeitsmarktpolitik und beim Ausbau sozialer Dienste.
Armutsdefinition des Berichts ist nicht unumstritten
Die dem Armutsbericht zugrunde liegende Definition von Armut ist derweil nicht unumstritten, einige Experten halten sie für zu weit gefasst.
Auch der Deutsche Städte- und Gemeindebund hält den Bericht für zu undifferenziert und "zu pauschal", wie Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg in der "Neuen Osnabrücker Zeitung" kritisiert. Diese Einstufung sage nichts über die tatsächliche Situation eines Menschen aus und bedeutete nicht unbedingt, dass die Betroffenen "abgehängt" seien. Als Beispiel nannte er die 2,8 Millionen Studenten: Hunderttausende von ihnen fielen in die umstrittene Armutskategorie, seien aber gesellschaftspolitisch besonders aktiv und sähen sich zu Recht als die zukünftige Leistungselite.
Forderungen nach mehr Sozialleistungen lehnte Landsberg ab. Der Bund gebe dafür schon jetzt über 52 Prozent seines Gesamthaushalts aus, nämlich 171 Milliarden Euro pro Jahr, argumentierte er. Auch die Sozialleistungen der Kommunen stiegen ungebremst. Nötig seien vielmehr Investitionen in Bildung, Infrastruktur und Arbeitsplätze sowie in finanzschwache Kommunen, sagte der Verbandsgeschäftsführer.
Schneider verteidigt Bericht
Schneider verteidigte den Maßstab indessen gegen Kritik. Armut dürfe nicht auf existenzielles "Elend" reduziert werden, sagte er im ZDF-"Morgenmagazin". Sie beginne bereits dort, wo Menschen aus finanzieller Not von ganz normalen Aktivitäten ausgeschlossen würden und am Leben einer Gesellschaft nicht mehr teilhaben könnten. Das drücke die 60-Prozent-Schwelle gut aus.