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Flüchtlinge in Deutschland: Von "Überschwemmung" keine Spur


Deutschland und die Flüchtlinge
Von "Überschwemmung" keine Spur

Von t-online
Aktualisiert am 13.10.2016Lesedauer: 5 Min.
Flüchtlinge registrieren sich in Stuttgart.Vergrößern des Bildes
Flüchtlinge registrieren sich in Stuttgart. (Quelle: dpa-bilder)

Bundesinnenminister Thomas de Maizière sieht eine Trendwende bei den Asylanträgen - endlich, sagen viele. Doch was ist eigentlich seit Anfang 2015 genau passiert?

Hat ein Flüchtlingsstrom uns heimgesucht? Und wie ist das mit Integration, Parallelgesellschaften und der wahren Zahl der Angekommenen? t-online.de sprach mit dem renommierten Osnabrücker Migrationsforscher Jochen Oltmer.

Herr Professor Oltmer, manche Deutschen leben in dem Gefühl, ihr Land sei von Flüchtlingen überschwemmt worden. Was würden Sie denen antworten?

Dass man davon überhaupt nicht sprechen kann. Wir hatten zwar in den vergangenen Jahren eine relativ hohe Zahl von Zuwanderern, insbesondere aus Europa. Wir haben aber auch relativ viel Abwanderung. Die derzeitige Zuwanderung hat mit der sehr günstigen wirtschaftlichen Situation zu tun. Wir kennen aber auch Konstellationen wie 2008/2009, als deutlich mehr Menschen abgewandert als zugewandert sind. Damals war vom "Ausbluten" Deutschlands die Rede. Die Wahrheit ist: Es gibt da ein beständiges Auf und Ab. Mit Zahlen, bei denen jemand den Eindruck erweckt, er hätte tatsächlich den Überblick über die langfristige Entwicklung, muss man sehr vorsichtig sein.

Deutschland hat jetzt ein Jahr Streit um die syrischen Flüchtlinge hinter sich - und immer noch steht Kanzlerin Merkel im Zentrum der Kritik. Zu Recht?

Natürlich gibt es manche Menschen und auch Medien, die glauben, dass die Entscheidung der Bundeskanzlerin Ende August, Anfang September 2015 die Zahl der Flüchtlinge stark nach oben getrieben hat. Ich würde diesen Aspekt stark relativieren und auf Folgendes hinweisen: Der Anstieg der Flüchtlingszahlen in der Bundesrepublik beginnt viel früher. Wir sehen, dass nach dem Beginn des Bürgerkriegs in Syrien 2011 die Zahl der Asylsuchenden Jahr um Jahr steigt. Ende 2014 beginnt dann eine ganz spezifische Dynamik, bei der man von einem "starken Anstieg" sprechen kann. Am Ende ist tatsächlich das, was dann ab August und September 2015 passiert, nur Teil einer langen Linie dieses steten Anstiegs.

Innenminister Thomas de Maizière hatte bereits Wochen vor Merkels so genannter Einladung 800.000 Flüchtlinge für 2015 vorausgesagt. Dann wurden es 890.000. Demnach hätten nur 90.000 wirklich auf Merkel reagiert. Stimmt diese Rechnung?

Das kann man aus einem einfachen Grund so nicht sagen: Wir haben es bei all den Zahlen über Asylsuchende mit problematischen Grundlagen zu tun. Wir wissen ja bis heute nicht, wie viele Menschen 2015 gekommen sind. Der Innenminister hat auch nicht gesagt, wie die Zahl von 890.000 zustande gekommen ist. Anfang Mai 2015 sagte er 400.000, Mitte August sprach er von 800.000 – das ist eine Verdopplung. Sowohl im Mai, als auch im August haben sich viele gefragt: Woher kommen denn diese Zahlen? Und tatsächlich sehen wir ja für 2015 eine Überforderung der Behörden, weil es gar keinen Überblick darüber gab.

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Warum ist das eigentlich so schwierig?

Man hat da einerseits die Zahl der Asylsuchenden - das waren 2015 weniger als 500.000. Dann haben wir die Zahl derjenigen, die nur im EASY-System des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge registriert sind – das wiederum sind Menschen die möglicherweise einen Asylantrag stellen werden. Wir wissen erstens, dass diese beiden Zahlen weit auseinander gehen und zweitens, dass sehr viele zwar in der Bundesrepublik registriert wurden, dann aber weitergewandert sind - also ein großes Zahlenwirrwarr.

Halten Sie selbst de Maizières Zahlen denn für realistisch?

Ich halte die Zahl von 890.000 zumindest nicht für übertrieben. Es gibt auch Stimmen, die – durchaus gut begründet vor dem Hintergrund von Weiterwanderung oder Rückwanderung – davon ausgehen, dass die Zahl niedriger anzusetzen ist.

Wie viele bleiben denn in der Regel?

Wenn wir mal auf die Kriege in Ex-Jugoslawien blicken, sehen wir: 1997 waren 330.000 Bosnier in der Bundesrepublik. Sechs Jahre später waren davon nicht einmal mehr zehn Prozent noch hier. 90 Prozent sind weiter- beziehungsweise zurückgewandert.

Würden Sie das bei den syrischen Flüchtlingen auch erwarten?

Nein. Die Konstellation bei den Bosniern war eine andere. Viele von ihnen sind gar nicht zum Asylverfahren zugelassen worden. Man hat sie im Status der Duldung gelassen und sehr großen Aufwand betrieben, um Rückwanderungsprogramme und auch Abschiebungen auf den Weg zu bringen. Damals sind sehr viele Bosnier weitergewandert – beispielsweise in die USA. Das ist in der derzeitigen Situation nicht absehbar. Es gibt aber auch jetzt Rückwanderung, auch wenn wir dazu keine Zahlen haben. Wir sehen außerdem, dass für viele Menschen aus Syrien der Status "besser" ist, als im Fall der Bosnier. Wie sich das entwickeln wird, hat viel damit zu tun, ob die Menschen die Hoffnung haben, mit einer Rückkehr ihre Perspektiven zu verbessern. Im Hinblick auf den Krieg dort ist kein Ende absehbar. Es hängt aber auch vom Ausgang der Verfahren und von den Zukunftschancen ab: Wer keine Chancen für sich sieht, wandert weiter oder kehrt in die Heimat zurück.

Viele Flüchtlinge gehen offenbar dorthin, wo bereits viele Menschen aus ihrem Herkunftsland leben. Führt das nicht zwangsläufig zur Bildung von Parallelgesellschaften?

Wir haben da - mal wieder - relativ wenige Informationen. Es gibt ja Menschen, die die Integration der Flüchtlinge für gescheitert halten. Das ist kompletter Unsinn. Diese Integration hat ja noch gar nicht beginnen können, da der größere Teil derjenigen, die 2015 kamen, noch nicht einmal im Asylverfahren ist. Die Frage nach Netzwerken von Freunden und Familie ist dagegen sehr wichtig: Die weltweite Migration läuft meist über Netzwerke. Menschen gehen in der Regel dorthin, wo es Verwandte und Freunde gibt, die mit Kontakten und Ähnlichem helfen können. Der geringste Teil geht in eine völlige Fremde hinein.

Ein ganz normaler Vorgang also?

Ein ganz normaler Vorgang und ein wichtiges Element bei der Integration.

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Mehr interessante Grafiken gibt es bei Statista.com

Das führt zur mehr Integration?

Ja, denn Integration bedeutet erst mal: Kontakte knüpfen und Netzwerke aufbauen. Wenn ich gar keine Möglichkeiten habe, irgendwo anzuknüpfen, habe ich ein Problem. Wenn mir aber vertraute Menschen helfen, Zugang zu Einheimischen zu finden, ist das ein erster Schritt zur Integration. Das kann zwar unter bestimmten Umständen auch zur Isolation führen, aber das ist nicht die Regel. In der Regel wirken solche Netzwerke positiv.

So wie bei der Ergreifung des Terroristen in Leipzig in dieser Woche? Da haben ja offenbar auch Netzwerke von Syrern eine Rolle gespielt.

So ist es.

Wie ist das mit Fachkräftemangel und Überalterung? Die Wirtschaft freut sich ja offenbar über die hohen Flüchtlingszahlen. Lösen die unser Problem?

Nein, das glaube ich nicht. Da sind in den vergangenen Jahren viele Perspektiven entstanden, die nicht realistisch sind. Ich denke, über einen langen Zeitraum gesehen, werden immer mehr Menschen, die als Kinder nach Deutschland gekommen sind, eine Ausbildung mitbringen oder absolvieren. Im Moment können wir dazu aber noch sehr wenig sagen, weil wir kaum wissen, mit welchen Qualifikationen Menschen gekommen sind. Das wird auch noch einige Jahre so bleiben.

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Was Sie sagen, klingt nicht so, als würden wir gerade Zeugen einer Einwanderungs-Katastrophe oder gar einer Völkerwanderung.

Nein, davon kann man wirklich nicht sprechen. Wir sind mit allen möglichen Problemen konfrontiert, aber das politische System funktioniert. Natürlich knirscht es, aber das tut es immer. Intensive Diskussionen zwischen Wählern und Gewählten – inklusive totaler Uneinigkeit - sollten in einer Demokratie normal sein. Ich finde es sehr wichtig, dass all diese breiten Diskussionen über Migration gelaufen sind. Wir können beobachten, dass in den vergangenen Jahrzehnten eher wenig über Migration gesprochen wurde, obwohl es sie gab - aus Angst davor, abgestraft zu werden. Auch heute noch wollen viele Politiker das Thema am liebsten nicht mehr anfassen, weil sie Angst haben, dass die Stimmung gegen etalierte Parteien noch zunimmt. Aber so funktioniert Demokratie nicht. Man muss das thematisieren.

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