Obdachlos im Regierungsviertel Mini-Slums mitten in Berlin
Mit Beginn des Frühjahrs schießen in Berlin kleine Zeltstädte aus dem Boden. Unter Bahnviadukten, in Parks oder auf Brachen lassen sich Wohnungslose nieder. Das Phänomen gibt es in der Hauptstadt schon länger, durch das Zusammenspiel mehrerer Faktoren scheint es sich derzeit aber zu verstärken. Mit der aktuellen Flüchtlingskrise hat es nichts zu tun.
Auf einmal ist die Armut sichtbar. Die bunten Zelte reihen sich zu einer Schnur entlang der Spree im Berliner Regierungsviertel. Das Bundeskanzleramt ist um die Ecke. Menschen ohne feste Bleibe haben sich vor aller Augen häuslich eingerichtet, so gut es eben geht. Vor den Zelten stehen Tüten, Flaschen, jemand scheint auf einem Tuch gebrauchte Bücher anzubieten.
Ähnliche Bilder gibt es in den ersten Frühjahrswochen auch von anderen zentralen Orten der Stadt, an denen sich größere und kleinere Lager gebildet haben. Obdachlose und Migranten hausen direkt an S-Bahn-Gleisen, auf Brachen, teils in Verschlägen aus Sperrmüll. Die größeren Lager, darunter ein Camp von etwa 100 Roma und eine Migranten-Zeltstadt, stehen dieser Tage im Blickpunkt der Medien.
Mehrere Faktoren kommen zusammen
So etwas hat es auch in früheren Jahren schon gegeben, doch die Bewohnerzahl in diesen Elendsquartieren scheint zu steigen. Zumindest haben Experten diesen Eindruck. Derzeit kommen einige Faktoren zusammen, die die Lage verschärfen: Wohnungen für den kleinen Geldbeutel sind in Berlin rar wie nie. Das Winter-Notprogramm für Obdachlose ist für dieses Jahr gerade ausgelaufen. Und vor allem aus Osteuropa kommen Migranten, die hier ihr Glück suchen und im Elend stranden. Andere Flüchtlinge gelten nicht als typische Camp-Bewohner.
Wie viele solcher Lager es mittlerweile in der Hauptstadt gibt, überblickt niemand. Schon bisherigen Schätzungen zufolge leben in Berlin zwischen 3000 und 6000 Obdachlose. Hinzu kommen mehr als 10.000 Wohnungslose, deren Übergangsunterkunft von den Sozialämtern getragen wird. Verlässlich und aktuell beziffern kann die Gruppen aber niemand. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe geht von einem Anstieg der Zahl der Wohnungslosen zwischen 2012 und 2016 bundesweit um ein Drittel aus.
Sozialdienste nennen Zahlen
Einen Eindruck von Berliner Verhältnissen geben Zahlen der Caritas: Allein von 2014 auf 2015 hat sich die Zahl der Behandlungen in der Ambulanz am Bahnhof Zoo um ein Drittel erhöht. Das Arztmobil zur Versorgung Wohnungsloser sei im vergangenen Jahr zu 1723 Einsätzen ausgerückt. 2014 waren es 1081 Einsätze.
Der Leiter der ganzjährig geöffneten Notunterkunft in der Franklinstraße, Jürgen Mark, sagt, er müsse jetzt abends immer wieder Menschen wegschicken. "Der Platz reicht einfach nicht für alle." Mit bitterem Ton in der Stimme fügt er hinzu, man könne den Betroffenen dann nur noch sagen, unter welcher Brücke es am schönsten sei.
"Wir hatten im Winter in der Kältehilfe so viele Betten wie nie zuvor, und die sind auch genutzt worden", sagt der Sprecher der Berliner Caritas, Thomas Gleißner. Im Schnitt etwa 800 Schlafplätze pro Nacht standen zur Verfügung, um Kältetote zu vermeiden.
Großer Druck auf den Wohnungsmarkt
Wer seine Wohnung verliert, lande nicht sofort auf der Straße, sagt Elfriede Brüning von der zentralen Beratungsstelle für Wohnungslose der Caritas. "Viele kommen erst einmal bei Bekannten unter. Doch die Gefahr, weiter abzurutschen und zu resignieren, ist größer als früher." Der Druck auf den Wohnungsmarkt nehme von allen Seiten zu.
Um Wohnungslose unterzubringen, mieten die Bezirke normalerweise auch Hostels, Pensionen und Hotels an. Wie Brüning sagt, klappe das aber nur noch in der Nebensaison, nicht aber zu Messe-Zeiten, an Weihnachten, Ostern und im Sommer. Die Beliebtheit Berlins bei Touristen hat ihre Kehrseite.
Viele Menschen kommen aus Osteuropa
Migranten aus Osteuropa kämen nach Berlin, weil die Stadt einen guten Ruf habe, sagt Ortrud Wohlwend von der Stadtmission. Selbst wenn sich der Traum nicht erfülle und die Menschen schließlich weiterzögen, rückten sofort neue nach, beschreibt sie die Situation. Diese Menschen hätten keinen Anspruch auf Sozialleistungen, ihr körperlicher Zustand nach einiger Zeit auf der Straße sei "teils verheerend".
Aber nicht alle wollten wieder weg - schließlich gebe es in Berlin so viele Menschen ohne Bleibe, dass sich die Betroffenen hier weniger diskriminiert fühlten als in anderen Städten. Auch Hilfe gebe es ja. Die Stadtmission versuche, den Menschen wenigstens einen Schlafsack mitzugeben - als Zuhause, berichtet Wohlwend.