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Armut in Deutschland: Warum die Schere immer weiter weiter aufgeht


Deshalb geht die Schere weiter auf
"Armut wird in Deutschland politisch gefördert"

t-online, Tanja Zech

Aktualisiert am 24.02.2016Lesedauer: 4 Min.
Trotz der guten Wirtschaftsentwicklung in Deutschland bleibt das Armutsrisiko hochVergrößern des Bildes
Trotz der guten Wirtschaftsentwicklung in Deutschland bleibt das Armutsrisiko hoch (Quelle: epd Picture Steffen Schellhorn/imago-images-bilder)
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Was bedeutet Armut in einer reichen Industrienation wie Deutschland? Warum geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auf? Darüber hat t-online.de mit den Armutsforschern Christoph Butterwegge und Dorothee Spannagel geprochen.

Die Konjunktur brummt, die Arbeitslosigkeit ist auf Tiefstand, viele Beschäftigte beziehen höhere Löhne oder Gehälter. Aber die positive Entwicklung geht an vielen Menschen in Deutschland spurlos vorbei. Lohnsteigerungen kommen im Niedriglohnsektor nicht an. Der Paritätische Wohlfahrtsverband beklagt in seinem aktuellen Bericht eine anhaltend hohe Armutsquote.

Schnell ist man mit dem Bild von der sich immer weiter öffnenden Schere zwischen Arm und Reich bei der Hand. Warum wird die Kluft nicht kleiner?

Harsche Kritik an der Steuerpolitik

Ein Erklärungsmodell liefert Christoph Butterwegge, Professor für Politikwissenschaft an der Uni Köln. Im Gespräch mit t-online.de vertritt er eine These, die für Betroffene zynisch klingen mag: "Die Gesellschaft braucht Armut als Abschreckung". Die Drohkulisse vom sozialen Abstieg halte die Leistungsgesellschaft zusammen. Das Phänomen nennt er "funktionale Armut". Er schiebt ein großes Aber hinterher: Werde die Armut zu groß, sei sie nicht mehr funktional und eine Gesellschaft könne daran zerbrechen.

Der kapitalismuskritische Wissenschaftler und Autor des Buchs "Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung" geht noch einen Schritt weiter. Er behauptet, dass Armut politisch gefördert werde. Das macht er an der Steuerpolitik der Großen Koalition fest. Die größten Vermögen würden von der Besteuerung freigestellt. Butterwegge listet auf: Senkung des Spitzensteuersatzes auf 42 Prozent, Senkung der Körperschaftssteuer auf 15 Prozent, und eine Kapitalertragssteuer von pauschal 25 Prozent.

Dagegen sei die Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent erhöht worden. "Das trifft die alleinerziehende Mutter, wenn sie Windeln kaufen muss."

"Enormes Maß an sozialer Ungerechtigkeit"

Die niedrigen Sätze bei Erbschaftssteuer und Vermögenssteuer sind auch für Sozialforscherin Dorothee Spannagel von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung ein rotes Tuch. "Hier besteht ein enormes Maß an sozialer Ungerechtigkeit, das sich über Generationen fortsetzt." Die Sozialforscherin differenziert: "Niemand soll 'Omas Häuschen' antasten. In Deutschland werden aber auch exorbitante Vermögen vererbt, beispielsweise Unternehmensvermögen. Wenn es um Millionenbeträge geht, ist eine deutlich stärkere Progression nötig."

Hartz-IV-Sätze bleiben hinter Lebenskosten zurück

Butterwegge kritisiert auch die Politik für das untere Ende der Einkommensskala: Die Hartz-IV-Sätze seien nicht so stark gestiegen wie die Inflation. Allein Energie habe sich deutlich verteuert. Empfänger der Sozialleistung seien daher heute schlechter gestellt als 2005. Wolle die Regierung Menschen aus der Armut helfen, müssten die sogenannten Regelbedarfe stärker steigen als die Lebenshaltungskosten. "Wenn man das nicht anpasst, macht man die Armen immer ärmer."

"Bei uns ist die Kluft ganz tief", rechnet Butterwegge vor: "Die fünf reichsten Deutschen verfügen über 101 Milliarden Euro. Das ist soviel wie die ärmsten 40 Prozent zusammen haben."

Die kritische Schwelle für das Abrutschen in die Armut

Wichtig ist bei solchen Betrachtungen immer die Unterscheidung von Armut und Armutsrisiko. "Armut in Deutschland ist nicht die existenzielle Armut, die wir aus der Dritten Welt kennen", erklärt Butterwegge und schränkt ein: "die gibt es hier vereinzelt auch, zum Beispiel bei Obdachlosen."

Als armutsgefährdet gilt in Deutschland, wer über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung verfügt. 2014 lag der Schwellenwert für eine alleinlebende Person bei 987 Euro. Für zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren lag der Schwellenwert bei 2072 Euro im Monat.

Armut heißt auch: nicht mehr dazugehören

Reiche werden immer reicher. Aber werden die Armen dadurch ärmer? "Ja", sagt Spannagel. Es gehe auch um das soziokulturelle Existenzminimum. Also: das Dazugehören. Armut in einem reichen Land sei erniedrigender als in einem Land mit niedrigem Lebensstandard, meint auch Butterwegge. "Jeden Tag wird eine Glitzerwelt vorgeführt, die einem zeigt, was man sich alles nicht leisten kann."

Relative Armut im Wohlstand bedeute soziale Ausgrenzung, und die werde bei Wohnen, Gesundheit, Bildung und Freizeit spürbar: In welcher Gegend kann ich eine Wohnung bezahlen, welche Gesundheitsvorsorge kann ich mir leisten, bleibt noch Geld für einen Kinobesuch oder Ausgehen mit Freunden übrig? Muss das Kind nach der Hauptschule schnell ins Berufsleben, weil sich die Familie keinen längeren Ausbildungsweg leisten kann?

"Man kann die Grundbedürfnisse befriedigen, aber sonst fast nichts." Die Folgen seien Resignation und Rückzug ins Private.

Wie lässt sich die Entwicklung bremsen?

Sozialforscherin Spannagel nennt wesentliche Punkte zum Abbau des Ungleichgewichts bei den Einkommen:

  1. Lohn- und Gehaltssteigerungen müssen auch zu den unteren Verdienstgruppen durchdringen.
  2. Tarifbindung stärken.
  3. staatliche Umverteilung des Reichtums von oben nach unten durch progressive Vermögens- und Erbschaftssteuer.
  4. armutsfeste Grundsicherung durch Anhebung der Hatz-IV-Sätze.

Wer ist in Deutschland von Armut bedroht?

Am stärksten von Armut gefährdet sind Alleinerziehende, Langzeitarbeitslose, und alte Menschen, die wenig Rente beziehen. Es ist absehbar, dass langfristig eine weitere Risikogruppe dazukommt: Migranten, die Schwierigkeiten haben, im deutschen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen und bis zum Rentenalter geringere Beiträge in die Sozialkassen eingezahlt haben werden.

Altersarmut nimmt drastisch zu

Aus dem Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands geht hervor, dass die Armut bei Rentnern seit 2005 etwa zehn Mal so stark angewachsen ist wie beim Rest der Bevölkerung.

Heikel sei die Situation für Frauen, die in den kommenden sechs bis neun Jahren in Rente gehen, erklärt Spannagel. Viele haben große Lücken in der Altersvorsorge, weil sie wegen der Kinder gar nicht, nur wenige Jahre, oder in Teilzeit gearbeitet haben. Sie konnten nicht so hohe Rentenansprüche erwirtschaften wie ihre Männer. Eine Trennung im Alter potenziert unter diesen Umständen das Armutsrisiko für diese Frauengeneration.

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