"Putsch findet im Moment statt" Ist die Kanzlerin bereits entmachtet?
In der Union brodelt es. Die Frontmänner Schäuble, de Maizière und Seehofer torpedieren Merkels "Willkommenskultur" - und die Kanzlerin schweigt. Droht ihr eine schleichende Entmachtung oder gar ein Putsch?
"De Maizière und Schäuble sind ganz klar anderer Meinung als Frau Merkel", sagte "Cicero"-Chefredakteur Christoph Schwennicke am späten Donnerstagabend in der Sendung von Maybrit Illner. "Sie greifen der Kanzlerin ins Lenkrad, weil sie den Eindruck haben, sie fährt in die falsche Richtung." Der Journalist setzte noch einen drauf: "Der Putsch hat in der Sache stattgefunden. Er findet im Moment statt", betonte Schwennicke.
Diese Ansicht teilte der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte nicht. Seiner Ansicht nach werde Merkel nach wie vor von einem "Popularitätspanzer" geschützt, sie agiere abseits von Geltungssucht und souverän. "Wer so eine Person versucht zu stürzen, wird mit abstürzen. Deshalb: Von Putsch zu reden, ist abwegig."
Ähnlich sieht es der Bonner Parteienforscher Tilman Mayer im Interview mit t-online.de. Er glaubt, dass Angela Merkel "in die Defensive gekommen ist", aber er sieht sie noch nicht komplett "mit dem Rücken zur Wand stehen" oder kurz vor einer Entmachtung.
Zuletzt haben sich prominente Unionspolitiker öffentlich von Merkels Flüchtlingskurs distanziert: Finanzminister Wolfgang Schäuble vergleicht den Zustrom mit einer "Lawine", von der wir überrollt werden. Innenminister Thomas de Maiziere schießt quer in Bezug auf das Dublin-Verfahren auch für Syrer und den Familiennachzug. Und die CSU spricht in der Flüchtlingspolitik von "Rechtlosigkeit" und will das Asylrecht verschärfen. Bemerkenswert: Die Kanzlerin hat sich bisher nicht zu den vermeintlichen Attacken geäußert.
"Wer soll den Karren aus dem Dreck ziehen?"
Mayer bewertet das öffentliche Rumoren in den eigenen Reihen zwar als "potentiell gefährlich" für die Stellung der Kanzlerin. Aber einen Putsch in absehbarer Zeit schließt auch er aus. "Wer soll denn an ihrer Stelle den Karren aus dem Dreck ziehen?", fragt er.
Weder de Maiziere, Schäuble noch Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen seien eine echte Alternative zu Merkel. "Die hohe Prozentzahl an Unterstützern für die Union bringt kein anderer zustande", so Mayer.
Experte: Merkel ist keine Getriebene
Das sieht auch der Berliner Parteienforscher Oskar Niedermayer so. Zwar bekomme Merkel vermehrt Druck, "und es fällt ihr immer schwerer, den Deckel auf dem Topf zu halten", sagt der. Doch einen Machtkampf in der Union macht er nicht aus, da es keinen echten Herausforderer gibt. Er sieht Merkel als handlungsfähig und keinesfalls als Getriebene, wie sie jeden Tag beweise.
In den Alleingängen von de Maiziere sieht Tilman Mayer eher ein Kommunikationsproblem als eine subversive Strategie, Merkel das Wasser abzugraben. "Das war kein gelungener Coup und hat die Kanzlerin nicht wirklich in Mitleidenschaft gezogen", sagte Mayer.
Merkel "in Freundschaft zum Handeln drängen"
Auch dass sich ein politisches Schwergewicht wie Schäuble auf die Seite der Mahner schlägt, wertet der Politologe noch nicht als Anzeichen dafür, dass am Stuhl der Kanzlerin gesägt wird. De Maiziere und Schäuble "wollen korrigieren" und "Merkel in Freundschaft zum Handeln drängen", so Mayer.
Das sei auch bitter nötig. "Die Kanzlerin muss endlich den Mund aufmachen und ein klärendes Machtwort sprechen, sonst brennt etwas an", sagte Mayer. Dazu gehöre, eine Begrenzung des Zustroms an Flüchtlingen in den Blick zu nehmen. "Doch sie geniert sich, eine solche Grenzziehung vorzunehmen und zu erklären, wir haben viel getan, aber jetzt ist es genug." Mayer hält Merkel in Bezug auf die Flüchtlinge für eine "Überzeugungstäterin", der es nun schwer falle, klärende Worte zu finden.
Die "Navigationskünstlerin" muss ein Machtwort sprechen
Bisher sei Merkel eine "Navigationskünstlerin" gewesen, gleich ob es um den Atomausstieg oder die EU-Finanzpolitik gegangen sei. "Die Bevölkerung hat sich bei ihr gut aufgehoben gefühlt", sagte Mayer. Das sei nun nicht mehr so - wie die aktuell sinkenden Umfragewerte demonstrieren.
Darin liegt auch die eigentliche Gefahr: Die Bürger werten eine Partei ab, die sich in der Öffentlichkeit so uneins und zerstritten gibt. Das verlorene Vertrauen ist dann schwer wieder zu gewinnen. So sieht der Mainzer Parteienforscher Jürgen Falter in den sinkenden Umfragewerten Merkels und der CDU "Zeichen für eine ernstzunehmende Vertrauenskrise". Merkel könne da nur herauskommen, wenn sie klarer Stellung nehme und sage, es gebe doch so etwas wie eine faktische Obergrenze.
Merkel stellt sich heute den Fragen
Merkels Strategie, abzuwarten und die Leute streiten zu lassen, um dann ein Machtwort zu sprechen, ist bekannt. Entscheidend wird sein, dass sie sich endlich dazu durchringt. Vielleicht heute Abend im ZDF-Gespräch "Was nun, Frau Merkel?" um 19.20 Uhr.