Buchkritik: "Der neue Tugendterror" Opfer sehen anders aus
Von unserem Mitarbeiter Alexander Reichwein.
Thilo Sarrazin hat mal wieder ein Buch geschrieben. Diesmal schafft sich Deutschland nicht gleich ab. Aber es scheint beinahe so schlimm. Denn das Land, so behauptet der Autor, werde von einem Meinungskartell dominiert, das "mehrheitlich links, grün und sozial eingestellt" und überzeugt sei, im Dienste einer "höheren moralischen Wahrheit" zu stehen.
Die Meinungsmacher kontrollieren demnach die Medien, überziehen die Gesellschaft mit einem ideologisch unterfütterten und moralisch aufgeladenen Tugendterror und bestimmen darüber, was gesagt werden darf und worüber geschwiegen werden muss.
Dahinter, so wettert Sarrazin weiter, stehe ein "quasi-religiöser" Gleichheitswahn sowie ein ganz bestimmtes Verständnis von Moral und Political Correctness. Die grundlegende Überzeugung, deren Ursprünge in "sozialistischen Ideen" liege, laute: Alle Menschen sind gleich, und nur dieses Gleichheitspostulat führe zu Gerechtigkeit.
Die Folge einer solchen Haltung sei eine Moralisierung von Fragestellungen und eine Beschränkung von zulässigen Antworten. Seine Thesen über die Ungleichheit der Menschen und die Konsequenzen, die das für eine Gesellschaft mit sich bringt, passten da nicht ins Bild einer multi-kulturellen "Schönwetterveranstaltung". Sie würden als Affront gegen die Gleichheitsidee und ihre Vertreter aufgefasst. Und er selbst würde als Ausländerfeind und Rassist diskreditiert.
Dies alles, so warnt Sarrazin, bedrohe eine Grundfeste der liberalen Demokratie: die Meinungsfreiheit, als deren größter Verteidiger sich Sarrazin sieht - und für die er augenscheinlich das Gleichheitsprinzip über Bord wirft.
Scharfsinniger Aufklärer oder gefährlicher Demagoge
Eines steht bereits vor der Lektüre des Buches, das heute erscheint, fest: Es wird einen Aufschrei der Entrüstung nach sich ziehen, eine hitzige Debatte um den Zustand unserer Gesellschaft lostreten und die Leserschaft spalten.
Für die einen wird Sarrazin mal wieder die unangenehmen Dinge, die so viele Menschen in diesem Land denken, ausgesprochen und "die Wahrheit" zu Papier gebracht haben, die ansonsten unter den Teppich gekehrt wird. Ohne Rücksicht auf politische Befindlichkeiten und gesellschaftliche Normen. "Der traut sich was", wird es zustimmend heißen, und "das wird man doch noch sagen dürfen".
Die anderen werden Sarrazin als gefährlichen Demagogen und populistischen Stammtischbruder mit begrenztem Horizont und fehlender Empathie für kulturelle Differenz ausweisen. Als jemanden, der mit Thesen daherkommt, mit denen sich am rechten Wählerrand fischen lässt.
"Tugendterror" im Namen einer "höheren Moral" und Political Correctness
Was steht eigentlich in dem Buch? Wie geht Sarrazin vor? Und was versteht er unter "Tugendterror"?
Der Autor beginnt mit einigen Ausführungen zur Meinungsfreiheit (die für Sarrazin lediglich auf dem Papier existiert), zur Rolle der Medien und zum Begriff der Political Correctness. Anschließend rekapituliert Sarrazin, wie er nach Erscheinen seines ersten Buches "Deutschland schafft sich ab" (2010) über die Rolle der Muslime in Deutschland und deren seines Erachtens mangelnde Integrationsbereitschaft mit dem linken Meinungskartell und deren Medienmacht in Konflikt geraten und in die rechte Ecke gestellt worden sei. Sein Buch, daraus macht Sarrazin schon zu Beginn kein Geheimnis, ist der Versuch, mit dieser Erfahrung umzugehen und gegen das Kartell zurückzuschlagen,
Daran an schließen Ausführungen, mit welch perfiden Techniken die Meinungsmacher angeblich arbeiten und Fakten verdrehen und manipulieren, und welcher dekadenten Sprache sie sich dabei bedienen. Und dann zieht Sarrazin noch die historische Linie vom "Tugendterror" im Christentum über das Zeitalter der Inquisition und Hexenverfolgung sowie der jakobinischen und sowjetischen Schreckensherrschaft bis heute. Kritische Geister, das ist wohl die Botschaft, seien halt schon immer und überall von den Herrschenden bekämpft und verfolgt worden.
Die Methode Sarrazin: wider dem Gleichheitswahn
Und dann folgen Sarrazins "Vierzehn Axiome des Tugendwahns im Deutschland der Gegenwart". Dabei geht der Autor wie folgt vor: Er stellt 14 seines Erachtens gesellschaftlich etablierte, in den Medien permanent reproduzierte und als moralisch dargestellte Denk- und Redemuster vor. Die Polemik dabei ist kaum zu überlesen.
Diesen zufolge sind alle Menschen gleich und menschliche Fähigkeiten nicht angeboren, sondern von Bildung und Erziehung abhängig. Völker und Ethnien sind mit Ausnahme äußerer Erscheinungsmerkmale nicht unterschiedlicher Natur und alle Kulturen gleichwertig. Reiche sollten sich schuldig fühlen und Leistungswettbewerb ist fragwürdig.
Sarrazin sucht zunächst nach Argumenten, die dafür sprechen. Anschließend stellt er diese Denk- und Redemuster, die man nicht hinterfragen dürfe, trotzdem infrage und argumentiert dagegen. Der Leser solle dann darüber urteilen, welche Position ihn jeweils mehr überzeugt. Das ist ein gefährliches Spiel.
Denn bezogen auf das laut Sarrazin weit verbreitete Denkmuster, der Islam sei eine Kultur des Friedens und bereichere Deutschland, heißt das in der Konsequenz: Sarrazin ist offenbar der Auffassung, dass der Islam keine Kultur des Friedens ist und Deutschland nicht bereichert. Für ihn ist die westliche und christlich-abendländische Kultur allen anderen Kulturen überlegen und die Entwicklungsländer an ihrer Armut und Rückständigkeit selbst schuld.
Und auch für die Menschen, die seines Erachtens ungerechtfertigterweise Sozialleistungen vom Staat kassieren oder keine Leistungsträger im ökonomischen Sinne sind sondern nur Kosten verursachen, für die Homo-Ehe und für kinderlose Familien findet er deutliche Worte. Dass Mann und Frau in Sarrazins Welt von Geburt an unterschiedlich intelligent sind, kann den Leser auch nicht mehr überraschen.
Eine der vielen Fragen, die sich bei der Lektüre von Sarrazins Buch stellt, ist, was denn angesichts von Tugendterror, der Diktatur der Gleichheitsfanatiker und einer manipulierende Medienlandschaft, die der Autor in unserer Gesellschaft zu erkennen glaubt und so sehr beklagt, die Überlegenheit unserer westlichen Kultur ausmachen soll.
Sarrazin gefällt sich in der Opferrolle
Sarrazin warnt auch vor den Gefahren, die es mit sich bringt, wenn sich eine Gesellschaft nicht mit der vermeintlich unveränderlichen Tatsache von der Ungleichheit zwischen den Menschen, Geschlechtern, Kulturen und Religionen und deren Folgen auseinandersetzt. Und so gelt es auch oder gerade in diesem Land, den Blick für die Ungleichheiten zu schärfen und Missstände schonungslos zu benennen. Darin sieht Sarrazin offenbar seine Bestimmung.
Dabei stilisiert er sich erneut zum Opfer des linken Meinungskartells, und er gefällt sich in dieser Rolle. Zwar ergehe es ihm nicht wie Galileo Galilei, der unter dem Druck der Inquisitoren widerrufen musste. Und auch die Zeit, in der die Ketzer wegen ihres falschen Glaubens verbrannt wurden, sei vorbei: "Natürlich ist das Deutschland der Gegenwart eine funktionierende Demokratie", konstatiert er. Da ist der Leser fast erleichtert.
Im gesellschaftlichen Klima dieses Landes aber, so klagt Sarrazin schließlich (an), gäbe es aber trotzdem keinen Platz für Andersdenkende und "Spalter" wie ihn. Für Menschen, die den Mut und das Rückgrat hätten, sich den vorgegebenen Denk- und Handlungsmustern der linken Tugendwächter nicht zu unterwerfen und sich nicht sprachlich und gedanklich gleichschalten ließen, sondern stattdessen unpopuläre Wahrheiten unbeirrt aussprechen.
Über die 14 Axiome des Tugendwahns in Deutschland, die Sarrazin aufstellt, und seine Haltung dazu mag man streiten. Das ist in einer Demokratie gang und gäbe, darin liegt eine Stärke unseres politischen Systems. Was seine Leser davon halten, dass Sarrazin offenbar nicht viel von ihnen hält, wenn er den meisten Menschen vorwirft, diese wollten nur im Konsens leben und suchten nur nach einfachen Wahrheiten, bleibt abzuwarten. Aber seine Einschätzungen die Meinungsfreiheit und seine Opferrolle betreffend sind nicht haltbar.
Natürlich gibt es in der Politik immer wieder Versuche, Diskussionen einzugrenzen, unliebsame Meinungen zu torpedieren oder Kritikern den Mund zu verbieten. Aber Formen der Tabuisierung, Ausgrenzung oder Verdrehung von Tatsachen gehören seit jeher zum politischen Geschäft. Sarrazin wäre also nicht das erste Opfer einer meinungsbildenden Elite.
Dagegen kann man in einer Demokratie aber vorgehen. Beispielsweise, indem man ein Buch schreibt. Genau das hat Sarrazin ja getan. Und über ausreichend Gehör kann sich der Autor wahrlich nicht beklagen.
Große Bühne für Jemanden, der angeblich nicht sagen darf was er denkt
Die Startauflage von Sarrazins Buch liegt bei 100.000 Exemplaren. Und auch sonst rührt der Verlag (DVA) kräftig die Werbetrommel. Anzeigen werden in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", der "Zeit" und der der "Welt" geschaltet. Einen Vorabdruck gab es in der "Bild".
Hinzu kommen zahlreiche Pressekonferenzen und Einladungen für den Autor in Talkshows. Und es wird kaum ein Medium in diesem Land geben, das nicht über das Buch berichten wird. Zumindest Teile des Medienkartells sind also äußerst wohlwollend gegenüber dem Autor. Aber eine differenzierte Betrachtung der Dinge hätte so ihre Tücken für das einfache Weltbild des Herrn Sarrazin.
Das alles ist ein ziemlich Großer Bahnhof und viel Ehre für jemanden, der behauptet, man dürfe in Deutschland nicht mehr frei sagen, was man so denke – und der dabei noch Millionen Euro verdient. Opfer sehen anders aus!