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Sahra Wagenknecht verteidigt im Interview Kritik an Asylpolitik


Sahra Wagenknecht im Interview
"Die Hoffnung hat Martin Schulz zerstört"

t-online, Patrick Diekmann, Carsten Werner

26.06.2017Lesedauer: 13 Min.
Sahra Wagenknecht (Die Linke) empfing die Redakteure von t-online.de im Deutschen Bundestag.Vergrößern des Bildes
Sahra Wagenknecht (Die Linke) empfing die Redakteure von t-online.de im Deutschen Bundestag. (Quelle: T-Online-bilder)
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Sahra Wagenknecht fordert im Exklusiv-Interview mit t-online.de mehr Umverteilung in Deutschland. Die Spitzenkandidatin der Linken verteidigt ihre kritischen Aussagen zur Asylpolitik und den russlandfreundlichen Kurs ihrer Partei. Eine Koalition mit SPD und Grünen schließt sie nicht vollkommen aus.

Vor der Bundestagswahl im September spricht t-online.de mit Spitzenpolitikern aller Parteien. Die Redakteure Patrick Diekmann und Carsten Werner trafen sich mit Sahra Wagenknecht, Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag.

t-online.de: Herzlichen Glückwunsch, Frau Wagenknecht. Die Linke wurde kürzlich 10 Jahre alt. Sie sind zu einer etablierten Größe im deutschen Parteiensystem geworden, aber viele Menschen in Deutschland bringen „Die Linke“ immer noch skeptisch mit der alten SED in Verbindung. Hätte es eine neue linke Bewegung, ohne PDS, nicht auf lange Sicht in Deutschland einfacher gehabt?

Sahra Wagenknecht: Das ist vergossene Milch. Wir sind jetzt zehn Jahre die Linke, die DDR gibt es seit 27 Jahren nicht mehr. Im Übrigen hatte ich persönlich zu DDR-Zeiten sehr viele Schwierigkeiten. Ich durfte nicht studieren. Ich habe Kritik geäußert. Ich war jedenfalls systemkritischer als unsere Bundeskanzlerin Frau Merkel, die einen sehr angepassten Karriereweg in der DDR hinter sich gebracht hat. Das werfe ich ihr nicht vor. Aber es ist schon interessant, dass solche Fragen nie gestellt werden, während man versucht, uns diese Geschichte immer wieder an die Backe zu kleben. Wir sind eine neue Partei. Ich finde, man sollte uns an dem messen, was wir heute vertreten.

Das fällt schwer, wenn Ihre Partei beispielsweise Diskussionen über die Formulierung „Unrechtsstaat DDR“ befeuert. Ihr Landesverband in Thüringen hat sich im Koalitionsvertrag zu dieser Formulierung bekannt. Warum schaffen Sie und die anderen Bundespolitiker der Linken das nicht?

Wir haben uns nie gescheut, Unrecht in der DDR zu verurteilen – weil es das gab. Und nicht wenig. Das hat dazu beigetragen, dass die Menschen die DDR am Ende überhaupt nicht mehr wollten. Aber der Begriff "Unrechtsstaat" hat eine bestimmte Geschichte – der kommt aus der Verurteilung des deutschen Nationalsozialismus, also der Hitler-Diktatur. Das ist die Herkunft des Begriffs "Unrechtsstaat". Jeden Staat, den man auch als Unrechtsstaat bezeichnet, stellt man mit dem deutschen Nationalsozialismus auf eine Stufe. Das finde ich falsch. Ein Beispiel: Ich finde es dringend nötig, die Menschenrechtsverletzungen in der heutigen Türkei zu kritisieren. Das ist eine islamistische Diktatur. Aber trotzdem ist das nicht vergleichbar mit faschistischen und nationalsozialistischen Diktaturen. Dort gab es millionenfachen Völkermord und Verfolgung. Das darf man nicht relativieren und verharmlosen, indem man den Begriff universell anwendet.

Ihr Wahlprogramm liest sich teilweise wie eine Giftliste für die Wirtschaft: Sie fordern höhere Unternehmenssteuern, höhere Löhne, weniger Arbeit für die Menschen, mehr Urlaub. Wie passt das mit ihrem Ziel zusammen, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen?

Gehören die Beschäftigten nicht zur Wirtschaft? Höhere Löhne würden die Lebensverhältnisse von Millionen Menschen verbessern, und ich finde es ein Unding, dass in einem reichen Land wie Deutschland, Menschen teilweise nicht von ihrer Arbeit leben können. Es gibt immer mehr prekäre und befristete Jobs. Sehr viele Menschen sind zwar nicht arbeitslos, haben aber nur einen Mini-Job. Oder sie sind selbstständig und können nicht davon leben. Das ist die Realität. Das viel gepriesene Jobwunder ist bei vielen Menschen gar nicht angekommen und viele sind sogar schlechter gestellt als noch vor zehn oder zwanzig Jahren. Das darf nicht sein. Wenn die Wirtschaft wächst, sollen alle etwas davon haben. Nicht nur die, die große Aktienpakete oder Unternehmen besitzen. Deswegen ist eine sozial gerechtere Politik und mehr sozialer Ausgleich keine Giftliste, das ist die Bedingung für gesellschaftlichen Fortschritt.

Fortschritt setzt aber voraus, dass die deutsche Wirtschaft im internationalen Vergleich wettbewerbsfähig bleibt.

Die deutschen Exportkonzerne können vor Kraft nicht laufen. Wir exportieren jedes Jahr mehr und importieren zu wenig. Das ist das Problem. Die Renten wurden gekürzt und die Löhne sind für viele Menschen zu niedrig. Sie können wenig kaufen und dadurch haben wir eine sehr schwache Nachfrage am Binnenmarkt. Die Exportindustrie dagegen boomt. Die würde auch kein Problem haben, wenn die Löhne um zehn Prozent steigen würden, weil sie dann immer noch deutlich niedriger wären als in vergleichbaren europäischen Ländern wie Frankreich oder Belgien. Man muss sich nur die Mindestlöhne angucken: Die liegen dort um mindestens einen Euro, oft zwei Euro und mehr höher als in Deutschland.

Die Linke fordert 120 Milliarden Euro Investition pro Jahr in Infrastruktur. Ein Großteil davon soll über neue Schulden finanziert werden. Deutschland hat bereits zwei Billionen Euro Schulden. Wann wollen Sie anfangen die zurückzuzahlen?

Wir fordern nicht, dass immer mehr Schulden gemacht werden. Wir fordern, dass endlich sehr große Vermögen besteuert werden. Wir fordern, dass die großen Konzerne endlich gezwungen werden, ihre Steuern zu zahlen. Da gibt es auch auf nationaler Ebene Möglichkeiten: Wer Gewinne in eine Steueroase verschiebt, sollte diesen Gewinnanteil in Deutschland nicht mehr von der Steuer absetzen. Solche Gesetze sind möglich. Wir wollen mehr Einnahmen. Wir wollen nicht, dass immer mehr auf Pump finanziert wird. Aber wer sich in diesem Land umschaut, wird auch sehen, dass es dringend mehr Investitionen braucht. Alle ernstzunehmenden Ökonomen kritisieren, dass wir unsere Infrastruktur verrotten lassen.

Kommen wir zur Asylpolitik. Ihre Partei lehnt jede Einschränkung des Asylrechts ab. Jeder soll auch ohne Fluchtgrund nach Deutschland kommen dürfen.

Das Asylrecht ist für Menschen, die verfolgt werden, und das wollen wir nicht einschränken. Die Linke hat daher keiner Verschärfung des Asylrechts zugestimmt. Wenn jemandem in der Türkei unter Erdogan zehn Jahre oder mehr Gefängnis drohen, weil er seine politische Meinung gesagt hat, dann müssen solche Menschen Anspruch auf Asyl haben. Das gilt auch für andere Länder: Menschen, die vor Folter oder vor Verfolgung fliehen, müssen Anspruch auf Asyl haben.

Und Leute, die aus wirtschaftlichen Motiven nach Deutschland kommen?

Deutschland kann nicht das Problem der globalen Armut dadurch lösen, dass wir alle Armen nach Deutschland holen – wir müssen in den Heimatländern für Perspektiven sorgen. Zumal die wirklich Armen ohnehin nicht kommen können. Wir haben ja gegenwärtig die schlimme Situation, dass 23 Millionen Menschen in Nahost und Afrika vom Hungertod bedroht sind. Diese Menschen kommen nicht nach Europa. Sie haben überhaupt keine Chance, 7000 Euro für Schlepper zu bezahlen. Es ist eine Schande, dass die Weltgemeinschaft zusieht, dass dort dieses Elend existiert und ihnen nicht hilft, während gleichzeitig die Ausgaben für Kriege und Rüstung erhöht werden. Wir müssen aufhören, Waffen in Kriegs- und Krisengebiete liefern. Wir dürfen auch nicht länger arme Länder unter Druck setzen, ihren Markt für unsere subventionierten Agrarexporte zu öffnen, die dort die lokalen Anbieter ruinieren. Wir müssen auf die internationalen Rohstoffkonzerne Druck ausüben, die diese Länder ausplündern.

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Und die Menschen, die vom Balkan gekommen sind, weil sie dort keine beruflichen Perspektiven haben?

Sobald es EU-Länder sind, gibt es die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Wenn sie es nicht sind, muss in den jeweiligen Ländern für mehr Chancen gesorgt werden.

Aber was soll mit den Menschen geschehen, die schon hier sind?

Menschen, die schon lange hier leben, die hier integriert sind, müssen natürlich weiter hier leben können. Integration funktioniert in dem Rahmen, in dem es Arbeitsplätze und Wohnungen gibt. Gegen die Engpässe bei bezahlbarem Wohnraum könnte und müsste die Politik sehr viel mehr tun. Und natürlich darf es nicht sein, dass Menschen, die teilweise sogar in Deutschland geboren sind, plötzlich in Länder wie Afghanistan abgeschoben werden. Das sind Länder, wo ihr Leben akut bedroht ist. Diese Abschiebungen finde ich absolut zynisch. Das darf man nicht tun, weil das jeden humanistischen Anspruch mit Füßen tritt.

Oskar Lafontaine hat im Februar gesagt, dass Flüchtlinge, die illegal über die Grenze gekommen sind, ein Angebot bekommen sollten, zurück zu gehen. Aber wenn sie dieses Angebot nicht annehmen, bleibe nur die Abschiebung. Würden Sie das so unterschreiben?

Es geht darum, ob man einen legalen Aufenthaltsstatus hat. Ich finde es nicht falsch Menschen, die den nicht haben, dabei zu unterstützen, freiwillig zurückzukehren. Wenn in Ländern nicht Zustände herrschen wie in Afghanistan, dann finde ich den Fokus auf freiwillige Rückkehr richtig. Aber man muss sich natürlich ansehen, aus welchen Ländern die Menschen kommen und wenn das ein Bürgerkriegsland ist, in dem jeder westliche Politiker, der sich dahin wagt, eine schusssichere Westen trägt, können Menschen nicht dahin abschoben werden.

In ihrem Wahlprogramm setzt sich die Partei auf lange Sicht für die Abschaffung der deutschen Geheimdienste ein. Diese Forderung kommt in einer Zeit, in der Deutschland de facto im Krieg mit dem IS ist. Warum wollen Sie die Sicherheit der Bevölkerung aufs Spiel setzen?

Es ist völlig klar, dass wir heute die Geheimdienste nicht abschaffen können. Wir müssen uns anschauen, was unsere Geheimdienste tun und wie sie arbeiten. Bisher ist es nicht gelungen, uns zuverlässig vor Anschlägen zu schützen. Beim Verfassungsschutz ist es wirklich die Frage, ob er eine effektive Arbeit leistet. Er hat beim NSU eine absolut dubiose Rolle gespielt. Und anstatt sich mit islamistischen Gefährdern zu beschäftigen, bevor diese Anschläge ausführen, werden immer noch Teile der Linken überwacht. Da gibt es erhebliche Defizite. Aber dass man auf Geheimdienste heute nicht verzichten kann, ist leider offenkundig. Deswegen ausdrücklich: auf lange Frist.

Was soll in Zukunft an die Stelle der Geheimdienste treten?

Der Beschluss gilt für eine Welt, in der man nicht mehr mit anderen Ländern und auch nicht mit solchen Organisationen wie dem IS im Krieg steht. Wir streben eine Welt an, die friedlich ist, in der man gut miteinander lebt und in der Staaten sich nicht gegenseitig ausspionieren.

Diese heile Wunsch-Welt wird es nie geben. Terroristen und Einzeltäter wird es immer geben.

Viele Aufgaben können von der Polizei übernommen werden. Dafür ist ein gut ausgestatteter Polizeiapparat notwendig.

Aber deutsche Geheimdienste haben bereits Anschläge verhindert.

In der heutigen Zeit muss man nicht darüber streiten, dass es neben der Polizei geheimdienstliche Methoden braucht. Aber was unsere Geheimdienste real machen - siehe den Fall des Terroristen Amri, den man kurz vor seinem voraussehbaren Anschlag nicht mehr beobachtet hat - ist für mich nicht überzeugend.

Die Linke stellt den stellvertretenden Vorsitzenden des parlamentarischen Kontrollgremiums. Ist auch die Arbeit von André Hahn bei der Kontrolle der Geheimdienste nicht überzeugend?

Der Einfluss dieses Kontrollgremiums ist sehr begrenzt. André Hahn leistet gute Arbeit, aber er hat immer wieder thematisiert, dass ihm Unterlagen nicht zur Verfügung gestellt werden und dass er Informationen nicht bekommt. Und er arbeitet unter der Restriktion, dass er gar nicht darüber sprechen darf. Er darf nicht in die Fraktionssitzung gehen und erzählen, was dort läuft. Dadurch ist die parlamentarische Kontrolle sehr gering.

Zentraler Kritikpunkt von SPD und Grünen ist, dass die Linke nicht zur Europäischen Union steht. Laut ihrem Wahlprogramm möchten sie die Verträge von Lissabon und Maastricht neu verhandeln. Was ist wenn die anderen EU-Staaten da nicht mitspielen?

Die EU wird von vielen Menschen nicht mehr als großes befreiendes und gemeinsames Projekt empfunden. Die Brüsseler Machtbürokratie mischt sich in die inneren Angelegenheiten der einzelnen Länder massiv ein und setzt dabei vielfach die Demokratie außer Kraft. Sie macht Ländern Vorschriften, zum Beispiel die Renten zu kürzen und ihre Arbeitsmärkte zu deregulieren. Das bringt die Bevölkerung natürlich gegen diese EU auf. Ich will ein Europa, das die Menschen als Bereicherung empfinden. Dafür müssen die Verträge verändert werden. Ein konkretes Beispiel: Laut Maastricht und Lissabon ist es vertragswidrig, dass ein Land zu viele Schulden macht. Aber es ist nicht vertragswidrig, wenn ein Land es sich zum Geschäftsmodell macht, Konzernen Steuersparmodelle anzubieten, die dazu führen, dass alle anderen Länder wesentlich weniger Einnahmen und daher mehr Schulden haben. Diese Verträge wurden vor allem für große Unternehmen geschrieben, aber sie sind nicht im Interesse der Menschen. Deshalb wollen wir sie neu verhandeln.

Sollte man dem Europäischen Parlament mehr Kompetenzen geben?

Ich war selbst fünf Jahre in dem Parlament und habe erlebt, wie stark der Einfluss von Lobbyisten dort ist. Wir haben überall Wirtschaftslobbyisten, auch im Bundestag. Aber auf europäischer Ebene hat das eine ganze andere Dimension, weil es keine Öffentlichkeit gibt, die das wahrnimmt und kontrolliert. Die Lobbyisten der großen Unternehmen haben in Brüssel den entscheidenden Einfluss, sowohl auf die Kommission als auch auf das Parlament. Wir brauchen ein in seiner Vielfalt vereinigtes Europa, in dem Nationalismus und Völkerhass nie wieder eine Chance bekommen. Aber der Weg, immer mehr Kompetenzen nach Brüssel zu verlagern, ist der falsche Weg, weil er Demokratie untergräbt. Denn die Demokratie in Brüssel funktioniert nicht, weil die Voraussetzungen für demokratische Entscheidungen einfach nicht da sind. Demokratie verlangt Bürgernähe. Deswegen ist es besser, wenn in den Parlamenten der einzelnen Mitgliedstaaten die wichtigen Dinge für das betreffende Land entschieden werden. Nur dann werden die Menschen sich nicht entmachtet und entmündigt fühlen.

Das wäre eine Rückkehr zum Nationalstaat.

Der Begriff Nationalstaat ist ein Totschlag-Begriff. Wer den Nationalstaat verteidigt, wird in die Ecke der Nationalisten gestellt. Aber es geht überhaupt nicht um das Nationale, sondern um eine Rückkehr zur Souveränität demokratischer Entscheidungen. Halbwegs funktionierende demokratische Strukturen gibt es aktuell nur in den einzelnen Ländern. Auch sie werden durch den Einfluss des großen Geldes ausgehöhlt, aber es gibt immerhin auch schlagkräftige Interessenorganisationen, die ein Gegengewicht bilden: Gewerkschaften, Sozialverbände. In Brüssel gibt es keine handlungsfähige zivilgesellschaftliche Gegenmacht gegen den Einfluss der Konzerne.

Also die Rückkehr zu mehr nationaler Verantwortung. Soll die deutsche Bevölkerung auch über den Verbleib in der europäischen Union abstimmen?

Es geht um die Rückkehr zu mehr Demokratie. Deutschland ist in einer privilegierten Situation. Deutschland bekommt wenig aus Brüssel diktiert. Die Vorschriften sind weit mehr das Problem der Südeuropäer. Auch das von Frankreich. Die dortigen umstrittenen Arbeitsmarktreformen etwa hatten alle die Handschrift von Brüssel. Deutschland hat eine günstigere Position, auch weil die Bundesregierung weitestgehend in Einigkeit mit Brüssel diese neoliberale Politik vertritt. Ein Problem entsteht immer dann, wenn ein Land eine linkere Regierung wählt. Wenn diese dann etwas verändern möchte, bekommt sie von Brüssel die Hände gebunden. Frau Merkel muss man nicht die Hände binden, sie macht freiwillig Politik für die Wirtschaftslobbyisten.

Auf dem Parteitag in Hannover wurde unter Beifall der Antrag abgelehnt, die russische Annexion der Krim als völkerrechtswidrig zu verurteilen – warum lassen Sie Putin so etwas durchgehen?

Wir haben es immer kritisiert, wenn Grenzen ohne Zustimmung des Landes verschoben werden. Natürlich hat die Linke kein Problem damit, Völkerrechtsbrüche zu verurteilen. Womit wir allerdings ein Problem haben, ist die Einseitigkeit, mit der Russland verurteilt wird. Wenn NATO-Staaten Völkerrecht brechen, was sie in den letzten Jahren immer wieder getan haben, wird das mit Schweigen hingenommen. Es ist nur konsequent, wenn beide Seiten verurteilt werden. Etwa in Syrien: Die Bomben, die dort fallen, bringen vor allem Zivilisten um. Das galt für russische Bomben auf Aleppo, es gilt aber auch für die Bomben der NATO-Staaten auf Rakka und andere Städte. Beides ist ein Verbrechen.

Aber der Parteitag hat Russland nicht verurteilt.

Meine Position ist klar: Völkerrecht darf nicht gebrochen werden. Das ist kein Kavaliersdelikt. Aber die Moralapostel auf westlicher Seite, die sich über Russland erheben, sollten erstmal ihre eigene Politik korrigieren, bevor sie glaubwürdig Russland kritisieren können.

Und Sanktionen gegen Russland?

Die halte ich für falsch. Dann müssten wir beispielsweise die Vereinigten Staaten und Großbritannien ebenfalls mit Sanktionen belegen, die den völkerrechtswidrigen Irak-Krieg vom Zaun gebrochen haben, der etwa 1 Million Menschen das Leben gekostet hat. Sanktionen gegen Russland lösen nichts. Die Sanktionen machen die Grenzverschiebung auf der Krim nicht rückgängig, sondern sie verdrängen lediglich russische Waren, insbesondere russisches Gas, vom europäischen Markt und schaden europäischen Unternehmen. Deswegen werden sie von den USA so betrieben. Sie wollen ihr eigenes Fracking-Gas hier verkaufen, das aber viel teurer ist als das russische. Ich finde, wir sollten uns nicht in einen Wirtschaftskrieg einbinden lassen, bei dem es um die Interessen von US-Konzernen geht.

Nach der Bundestagswahl im Herbst könnten Sie möglicherweise eine linke Regierung zusammen mit den Grünen und der SPD bilden. Warum stellen Sie dafür so hohe Hürden auf? Wollen Sie unbedingt Oppositionspartei bleiben?

Die entscheidende Hürde für eine Regierung aus SPD, Grünen und Linken liegt derzeit woanders. Die SPD ist aufgrund ihres unglaubwürdigen Wahlkampfes in der Wählergunst so abgestürzt, dass eine Mehrheit für Rot-Rot-Grün kaum noch erreichbar scheint. Aber richtig ist: Die Linke kann sich nur an einer Regierung beteiligen, die die Grundrichtung der Politik verändert. Wir sind nicht gegründet worden, um Sozialabbau, die Förderung des Niedriglohnsektors und Rentenkürzungen fortzusetzen. Dagegen machen wir Opposition. Ohne uns gäbe es ja überhaupt niemanden mehr, der diese Politik kritisieren würde. Es ist schlimm genug, dass wir so viele Parteien haben, die verwechselbar geworden sind. Zwischen den anderen Parteien gibt es doch kaum noch relevante, inhaltliche Unterschiede.

Auffällig waren auch die Wählerwanderungen von der Linkspartei zur AfD bei vergangenen Landtagswahlen. Ist die AfD die bessere Protestpartei?

Die AfD ist laut ihrem Wahlprogramm überhaupt keine Protestpartei. Sie steht für Sozialabbau, ist gegen eine Vermögenssteuer und gegen höhere Erbschaftssteuern für Reiche. Die schwimmen voll mit im neoliberalen Mainstream, den sie allerdings mit einer tüchtigen Portion Rassismus toppen. Die Medien haben die AfD zu einer Partei aufgebaut, die gegen alle anderen steht. Aber das stimmt nicht. AfD-Politiker beklagen sich gern über die Medien, aber eigentlich können sie sich bedanken, denn sie haben viel Aufmerksamkeit bekommen. Wir hatten Großdemonstrationen gegen TTIP mit 100.000 Leuten auf der Straße und darüber wurde kaum berichtet. Aber eine Pegida-Demo mit 30 Leuten und einem deutschen Schäferhund hatte ihren Platz in den Abendnachrichten sicher. Es gibt viele Menschen, die begründet Angst vor noch mehr Konkurrenz um Arbeitsplätze und bezahlbaren Wohnraum haben. Oder auch vor Terroranschlägen. Die AfD geht mit den Themen Asyl und Flüchtlingspolitik auf Wählerfang, aber sie hat überhaupt keine Lösungsvorschläge. Unsere Position ist übrigens auch nicht, dass wir uns wünschen, dass es noch mehr Flüchtlinge gibt. Im Gegenteil. Steigende Flüchtlingszahlen sind der Ausdruck einer Welt des Elends und der Hoffnungslosigkeit. Wir wollen, dass niemand mehr aus seiner Heimat fliehen muss.

Aber auch Sie haben im letzten Jahr mit Äußerungen über „Grenzen der Aufnahmebereitschaft“ von Geflüchteten und über Abschiebungen krimineller Migranten für viel Unmut gesorgt.

Ich habe gesagt, dass es Kapazitätsgrenzen gibt. Das ist eine Banalität. Also wenn einer bestreitet, dass Kapazitäten begrenzt sind, kann ich das nicht ernst nehmen. Es gibt für alles Kapazitätsgrenzen und natürlich kann man nicht beliebig viele Menschen erfolgreich integrieren. Denn das ist doch die entscheidende Frage: ob Integration gelingt. Es gibt teilweise noch große Probleme, obwohl Menschen bereits in zweiter und dritter Generation hier sind. Das hat weniger mit Religion zu tun als mit sozialen Problemen. Mit der Ghettoisierung von Wohngebieten, schlecht ausgestatteten Schulen, Perspektivlosigkeit. Und mit radikalen islamistischen Organisationen, die vom deutschen Staat sogar noch gefördert werden. So begünstigt man, dass Parallelwelten entstehen.

Nach der Bundestagswahl möchten Sie einen Politikwechsel in Deutschland. Warum nicht mit Rot-Rot-Grün? Warum nicht die Konservativen aus der Regierung heraus halten?

Ich fände es toll, wenn wir die Konservativen aus der Regierung halten. Vor allem, wenn ihre Politik aus der Regierung verschwindet. Aber dafür brauchen wir Partner, die ebenfalls eine andere Politik machen wollen. SPD und Grüne haben sich leider in den letzten Jahren so aufgestellt, dass sie nicht mehr für soziale Politik stehen. Gerhard Schröder hat den größten Sozialabbau der deutschen Nachkriegsgeschichte durchgesetzt. Das hätte sich Helmut Kohl nicht getraut. Das war frontal gegen die Interessen der großen Mehrheit der Bevölkerung. Ich würde jubeln, wenn sich die SPD von diesem Erbe und diesem Kurs verabschiedet. Das war die Hoffnung kurz nach der Nominierung von Martin Schulz - ein neuer Kurs. Nur diese Hoffnung hat Schulz sehr schnell zerstört. Also wenn man sich das im Laufe des Frühjahrs häppchenweise offerierte Wahlprogramm der SPD anguckt, sollen weder Rentenkürzungen noch die Leiharbeit zurückgenommen werden. Die Lohndrückerei soll nicht ernsthaft bekämpft werden und auch bei Werkverträgen soll nichts passieren. Sie versuchen nicht einmal etwas von dem zu korrigieren, was sie falsch gemacht haben. Dann ist der Unterschied, ob Frau Merkel oder Herr Schulz regieren würde, leider nicht sehr entscheidend.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führten Patrick Diekmann und Carsten Werner.

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