Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Trumps Vize prescht vor Und plötzlich ist er der Ausweg
Als Vizepräsident hielt er Trump stets die Treue. Bis zum Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021. Plötzlich aber prangert Mike Pence den Populismus an. Ist er der Schlüssel zur Selbstbefreiung der Republikaner?
Bastian Brauns berichtet aus Washington
Egal, wo Mike Pence derzeit auftaucht, muss er sich wütenden Fragen stellen. Auf Wahlveranstaltungen im ganzen Land trifft der ehemalige Vizepräsident auf viele Trump-Unterstützer. "Warum hast du das Volk verkauft?" oder "Du Verräter!" schallte es ihm schon Anfang Juli, beim Beginn seiner Tour durch den Bundesstaat New Hampshire, entgegen. Mike Pence aber bleibt stets ruhig. Auch, als er bei einer Fragestunde von einem Trump-Anhänger beschuldigt wird, Joe Biden sei nur wegen seines Versagens an der Macht. "Bei allem Respekt. Gehen Sie und lesen Sie die Verfassung!", sagt Pence.
Er ist eine Hassfigur für die Parteibasis der Republikaner, die noch immer stark von Donald Trump eingenommen ist. Darum hat niemand Mike Pence auch nur den Hauch einer Chance eingeräumt, als er vor einigen Monaten seine eigene Kandidatur für die kommenden Präsidentschaftswahlen bekannt gegeben hatte. In den Umfragen liegt er bis heute zwar unter den Top 5 der Republikaner. Aber weit abgeschlagen hinter Trump und anderen wie Floridas Gouverneur Ron DeSantis oder dem Selfmade-Milliardär Vivek Ramaswamy und der einzigen Frau, Nikki Haley.
Warum aber will Mike Pence dann überhaupt gegen seinen alten Chef im Weißen Haus antreten? Lange sprach vieles dafür, dass das für ihn vor allem eine Frage der Ehre ist. Und sicher will Pence insbesondere seinen Ruf als ehrbarer Politiker verteidigen. Inzwischen wird aber immer deutlicher, dass es dem ehemaligen Vizepräsidenten offenbar um mehr geht. Ausgerechnet Mike Pence scheint einen Kreuzzug gegen die Populisten bei den Republikanern zu führen. Es könnte die langersehnte Rettungsgasse für den amerikanischen Konservatismus sein.
Das ramponierte Ansehen retten
Die Frage der Ehre steht als Motivation trotzdem am Anfang. Mit seiner Präsidentschaftskandidatur hat Mike Pence noch einmal die Chance, seinen Namen reinzuwaschen – im Land, im Fernsehen und vor einer großen Öffentlichkeit. Denn für Trump und seine zahlreichen Anhänger ist sein einstiger Vize ein Geächteter und ein Verräter. Seit Mike Pence am 6. Januar 2021 qua Amt als Vizepräsident die Sitzung im Kongress leitete, in der Joe Bidens Wahl bestätigt wurde, werfen sie ihm vor, dies nicht verhindert zu haben.
Der wütende Mob, der an diesem Tag das Kapitol stürmte, hätte ihn darum am liebsten gehängt. Und Trump hätte das laut Zeugenaussagen im späteren Untersuchungsausschuss des US-Kongresses nicht einmal für ungerechtfertigt gehalten.
Mike Pence stand an diesem Tag auf der richtigen Seite der Geschichte: auf der des Gesetzes. So erzählt er es nun seit Monaten. Schon im Juni, bei der Bekanntgabe seiner Kandidatur in Iowa, sagte er: "Präsident Trump lag falsch, was meine Autorität angeht, und er liegt damit noch heute falsch." Dann ergänzte er: "An diesem schicksalhaften Tag forderte er mich auf, mich zwischen ihm und der Verfassung zu entscheiden." Wie sehr dieser Tag seitdem sein Leben verändert hat, auch das spricht er offen an: "Er hat meine Familie in Gefahr gebracht." Will Pence dafür also Rache an Donald Trump nehmen? Sagte er deswegen auch bei den Ermittlungen gegen ihn aus? Es mag ein Grund sein.
Die Rettung des Konservatismus
Doch seit einigen Wochen wird deutlich: Es geht Mike Pence mit seiner Kandidatur um mehr als nur persönliche Motive. Ausgerechnet Pence, der einst als Steigbügelhalter des Rechtspopulismus die Wahlstimmen der erzkonservativen Evangelikalen für Trump organisierte, gibt jetzt den Mahner und Warner, den Kämpfer für die "wahren", die konservativen Werte der Republikaner.
Bei einer Wahlkampfveranstaltung in New Hampshire, dem zweiten Bundesstaat für die Vorwahlen der Republikaner nach Iowa, wurde er an diesem Mittwoch so deutlich wie noch nie. In einer Rede am Institute of Politics des Saint Anselm College sagte Pence: "Sollte der neue Populismus der Rechten unsere Partei ergreifen und leiten, wird die Republikanische Partei, wie wir sie seit Langem kennen, aufhören zu existieren und das Schicksal der amerikanischen Freiheit würde ins Wanken geraten."
Plötzlich prescht Pence in seinem Wahlkampf mit einer Agenda vor, die bis vor Kurzem im Lager der Republikaner noch als undenkbar erschien. Zumindest für jene, die noch etwas in ihrem politischen Leben erreichen wollen. Pence aber hat nichts zu verlieren. Unter Trump würde er weder noch einmal Vizepräsident werden, noch einen anderen Kabinettsposten bekommen. Das gibt ihm Freiheit, die sonst kaum ein Kandidat hat. Pence spricht aus, was viele denken, aber nicht zu sagen wagen: Es gebe nur einen Ausweg für die Republikaner – sie müssten eine Grenze ziehen zwischen "Populismus und Konservatismus".
Die Republikanische Partei könne sich nur "für den Populismus oder für den Konservatismus entscheiden, aber nicht für beides", sagte Pence bei seiner Rede. Denn: "Konservative befürworten die Gewaltenteilung, während die Populisten sie verachten." Die Populisten der Rechten seien wie die Progressiven der Linken "on the road to ruin", sagt er, auf einer Straße, die ins Verderben führt.
Absage an alle Rechtspopulisten
Trumps Namen erwähnte er an diesem Abend nicht. Pence nannte ihn nur den "Spitzenkandidaten", und jeder wusste, wen er meinte. Dieser wolle alle Regeln, Vorschriften und Gesetze aushebeln, sogar "jene, die in der Verfassung verankert sind", sagte Pence. Wie ernst es ihm mit seiner Mahnung ist, zeigt sich daran, dass er nicht nur gegen Trump wettert. Auch vor dessen Nachahmern warnte er nicht zum ersten Mal. Das zeigten zuletzt auch die klaren Attacken gegen die Trump-Kopie, den Unternehmer und Präsidentschaftskandidaten Vivek Ramaswamy.
Nur, auf wie viel Gehör stößt Trumps abtrünniger Vizepräsident damit? Einen Sieg von Donald Trump bei den Vorwahlen der Republikaner wird er damit kaum vereiteln können. Dafür besteht die Möglichkeit, dass Pence' Argumentation und sein unbeschwertes Auftreten noch einige Dynamik entwickeln könnten. Er könnte die Basis derer, die mit Trump fremdeln, vergrößern. Für eine Wiederwahl Trumps bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr wäre eine solche Entwicklung desaströs. Sollten sich dazu noch andere Kandidaten ermutigt fühlen, deutlicher gegen Trump aufzutreten, könnte der Trumpismus ins Wanken geraten.
Sollte Amerikas Konservativen diese Selbstbefreiung nach Jahren der selbstgewählten Zwangsehe mit dem Rechtspopulismus gelingen, wäre Mike Pence einer ihrer entscheidenden Wegbereiter. Er hätte sich dann spät, aber noch zu Lebzeiten auf jene Seite der Geschichte geschlagen, zu der zwar rechtskonservative Inhalte, aber eben auch Verfassungstreue gehören. Als Erlöser der Republikaner hätte er dann auch sich selbst gerettet.
- Eigene Recherchen
- Rede von Pence in New Hampshire am 6. September 2023 (Englisch)
- Verschiedene Wahlkampfauftritte von Mike Pence
- fivethirtyeight.com: Who’s ahead in the national polls? (Englisch)