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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Scholz-Besuch in Washington Eine rätselhafte Reise
Was Olaf Scholz mit Joe Biden in Washington zu besprechen hatte, geht weit über seine Amtszeit hinaus. Über einen knappen, geheimnisvollen Besuch mit großer Bedeutung.
Wäre es um große Gesten gegangen, dann hätte Joe Biden den Bundeskanzler vielleicht an der Türschwelle des Weißen Hauses abgeholt. Olaf Scholz' zweiter Besuch bei Joe Biden war dieses Mal jedoch von Nüchternheit geprägt.
Der Bundeskanzler kommt zwar mit einem schwarzen, gepanzerten Chevrolet Suburban vorgefahren, beflaggt mit einem amerikanischen und einem deutschen Fähnchen. Scholz steigt dann aber aus und geht alleine hinein. Der US-Präsident wartet an diesem nieselkalten Freitag lieber drinnen.
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Es gibt viel Gesprächsbedarf
Zwar soll es ganz bewusst nur ein sogenannter Arbeitsbesuch sein. Eine Pressekonferenz wurde extra nicht geplant. Scholz hat nichts anzukündigen. Biden lässt am selben Tag die nächsten 400 Millionen US-Dollar für Waffenlieferungen bekannt geben – das ist der Unterschied zwischen Mittelmacht und Supermacht. Der Präsident platziert den Bundeskanzler trotzdem unterhalb der Porträts von Abraham Lincoln und George Washington neben sich im Oval Office, dem wohl mächtigsten Büro der Welt. Ein paar repräsentative Fotos der beiden Regierungschefs müssen sein. Dazu wenige Worte für die anwesende Presse.
Beide sichern ihre Unterstützung für die Ukraine zu. Und sie betonen dabei, "im Gleichschritt", gemeinsam zu handeln. "Ich freue mich wirklich sehr, hier zu sein, um mit dir zu sprechen", sagt Scholz. "Wir haben viel zu bereden, ich freue mich darauf", sagt Biden. Nach einer guten Stunde Unterredung unter vier Augen verlässt der Bundeskanzler das Weiße Haus, macht sich dann auf den Weg zu einem Interview mit dem Fernsehsender CNN. Dann fliegt er nach Hause. Am Sonntag wartet eine innenpolitisch knifflige Koalitionsklausur in Meseberg.
Große Fragen für die Zukunft Deutschlands
So kurz und verschwiegen der Besuch des Bundeskanzlers in Washington gewesen sein mag, so langfristig sind die Auswirkungen der Themen, über die er sich mit dem US-Präsidenten unterhalten hat. Einiges davon ist so bedeutsam, dass Scholz es lieber persönlich ansprechen will als nur per Telefon und Video oder am Rande eines Gipfels. Auch wenn die transatlantischen Beziehungen derzeit so gut sein sollen wie lange nicht mehr.
Von dem Vieraugengespräch soll nichts an die Öffentlichkeit dringen. Auch die Delegationen der beiden sind nicht anwesend. Es bleibt eine rätselhafte Reise, auch wenn die Beweggründe offensichtlich sind. Von US-Seite aus will man etwa unbedingt über China sprechen, den großen Rivalen hinter dem anderen großen Ozean.
Aber lassen sich Sanktionen gegen China überhaupt verhindern, sollte das Land entgegen dem eigenen Beteuern doch Waffen an Russland liefern? Für Deutschland wären die wirtschaftlichen Folgen in jedem Fall noch einschneidender als bei jenen gegen Russland. Wie erreicht man jetzt noch Nachbesserungen für ein US-Gesetz wie den Inflation Reduction Act (IRA), welcher der deutschen und europäischen Wirtschaft ebenfalls empfindlich schaden kann?
Möglicherweise muss Olaf Scholz diese beiden Themen miteinander verknüpfen. Denn sollten die USA Erkenntnisse zu chinesischer Unterstützung für Russland haben, mit der die Sanktionen unterlaufen werden, wird es heikel. Auch für die starke deutsche Volkswirtschaft gibt es eine Belastungsgrenze. Sanktionen gegen China und eine Abwanderung deutscher Unternehmen in ein amerikanisches Subventionsparadies würde diese Grenze überschreiten. Je mehr die US-Regierung bei den Über-Subventionen nachbessert, desto einfacher könnte Deutschland womöglich bei der China-Politik mitziehen.
Kein selbstverständliches Verständnis
"Olaf, es hat sich viel verändert, seit du im vergangenen Jahr hier gewesen bist", duzt Joe Biden den Bundeskanzler im Oval Office und lobt ihn für seine Zeitenwende. "Du hast zu Hause historische Veränderungen vorangetrieben. Ich habe durchaus wahrgenommen, dass die Erhöhung der Verteidigungsausgaben und die Diversifizierung weg von russischen Energiequellen nicht einfach und sehr schwierig für dich war."
Das mag wie eine freundschaftliche Floskel klingen. Von einem Donald Trump wären solche Sätze aber kaum vorstellbar. Sie zeigen, dass Biden um das wirtschaftliche Dilemma Europas und selbst des starken Deutschlands weiß.
Aber wie stärkt man das deutsch-amerikanische Bündnis, auch für den Fall, dass in zwei Jahren ein Donald Trump oder ein Ron DeSantis im Weißen Haus sitzen wird? Deutschland wird von Amerika in den kommenden Jahren eher noch abhängiger als unabhängiger werden. In der Panzerfrage um Leopard- und Abrams-Lieferungen wurde deutlich, dass der Gleichschritt zumindest kein Selbstläufer ist. Verstimmungen können passieren, aber müssen dann schnell überwunden werden. Auch darum ist Scholz persönlich gekommen.
Scholz will vorsorgen für alle Fälle
Scholz wirbt in Washington für die guten transatlantischen Beziehungen, weil er weiß, wie wichtig sie in den kommenden Jahrzehnten sein werden. Um künftigen Krisen vorzubeugen, versucht die Bundesregierung zwar, ihre Handelsabhängigkeiten weltweit auf mehr Länder zu verteilen als bislang. Die Wichtigkeit Amerikas aber übersteigt alles andere. Zumal mit Russland und China zwei große gegnerische Mächte der USA enger zusammenarbeiten als je zuvor. Die Interessenlagen in der sogenannten multipolaren Welt mit Brasilien, Indien und auch den Ländern Afrikas sind schwer zu kalkulieren.
"Ich schätze die sehr gute Zusammenarbeit zwischen uns beiden, unseren Regierungen, den Vereinigten Staaten und Deutschland und Europa sehr", sagt Scholz deshalb, während er unterhalb von Lincoln und Washington sitzt. Die transatlantische Partnerschaft sei heute wirklich in einer sehr guten Verfassung. "Das hat sehr viel mit deiner Führungsstärke zu tun", lobt Scholz den US-Präsidenten zurück. Der Bundeskanzler weiß, dass man sich auf einen möglichen, anders orientierten Nachfolger nur schlecht im Vorhinein einstellen kann. Sein Besuch ist auch eine Wette auf den nächsten Wahlsieg des 80-jährigen Joe Biden.
- Eigene Recherchen und Beobachtung vor Ort