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Nordkorea: Sanktionen treffen Menschen, nicht das Regime


Nordkorea-Experte im Interview
"Flüchtlingen droht Lagerhaft oder die Todesstrafe"

t-online, Patrick Diekmann

15.11.2017Lesedauer: 5 Min.
Südkoreanischer Militärpolizist: Die innerkoreanische Grenze ist dicht.Vergrößern des Bildes
Südkoreanischer Militärpolizist: Die innerkoreanische Grenze ist dicht. (Quelle: EPA/JEON HEON-KYUN/dpa)

Auf Flucht aus Nordkorea stehen Todesstrafe und Sippenhaft. Warum trotzdem Menschen fliehen, wieso Sanktionen dem Regime helfen und wie sich das Land verändert hat, erklärt Nordkorea-Experte Werner Pfennig.

Ein Interview von Patrick Diekmann

Herr Pfennig, wie viele Menschen fliehen jedes Jahr aus Nordkorea?

Pfennig: Die Zahlen schwanken, es sind aber pro Jahr weniger als hundert. Es leben etwa 30.000 nordkoreanische Flüchtlinge in Südkorea. Bis 1990 flohen meist Angehörige der Elite, Parteikader und Diplomaten. Danach kamen überwiegend Wirtschaftsflüchtlinge, meist Frauen. Im Jahr 1998 gab es eine Gesetzesänderung: Flüchtlinge wurden in Südkorea nun nicht mehr "Brüder, die zum Staat zurückgekehrt sind" genannt, sondern "Einwohner, die aus dem Norden flüchteten", oder "Flüchtlinge aus dem Norden". Seit 1990 existiert "Hanawon", ein Integrationszentrum im Süden von Seoul. Flüchtlinge, die dort registriert sind, erhalten die Staatsbürgerschaft.

In welche Länder fliehen Nordkoreaner?

Meist führt der Fluchtweg über China und Länder in Südostasien wie Laos und Thailand nach Südkorea. Über die Grenze zwischen Nord- und Südkorea ist eine Flucht kaum möglich. Wenn überhaupt, dann gelingt es Soldaten des Nordens, die dort stationiert sind. Vor wenigen Tagen flüchtete ein nordkoreanischer Soldat in den Süden der "Gemeinsamen Sicherheitszone". Das ist aber sehr selten. Er wurde von den eigenen Leuten angeschossen und befindet sich in einem Krankenhaus in Südkorea.

Welche Fluchtrouten sind bekannt?

Der Fluchtweg über China bietet sich an, weil der Grenzfluss zahlreiche seichte Furten aufweist und im Winter zufriert. Auf der chinesischen Seite, in der Provinz Jilin, leben seit langer Zeit koreanische Minderheiten. Von dort aus organisieren einige Gruppen Fluchten, meist von Kirchen in Südkorea finanziert. Fast alle Flüchtlinge bleiben erst in Jilin und versuchen, illegal zu arbeiten. Der weitere Fluchtweg kann Monate oder Jahre dauern. Die Flucht ist mit Gefahren sowie beträchtlichen Kosten verbunden, die dann nach der Ankunft in Südkorea zurückgezahlt werden müssen.

Dr. Werner Pfennig, Jahrgang 1944, war Dozent für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Sein Arbeitsbereich ist die „Politik Chinas und Ostasiens“ und umfasste auch die Perspektiven einer Wiedervereinigung zwischen Nord- und Südkorea.

Was sind die Hauptmotive für die Flucht?

Motive sind Hunger, politische Verfolgung und der Wunsch, ein freieres Leben zu führen. In den 90er Jahren gab es unter Kim Jong-il mehrere große Hungersnöte.

Hat das Regime die Lebensmittelversorgung mittlerweile im Griff?

Ja, das hat es. In den Städten ist die Grundversorgung sichergestellt, was auf ländliche Gebiete nicht immer zutrifft. Die zahlreichen "freien Märkte" und Tauschhandel tragen wesentlich zur Versorgung bei. Allerdings ist die letzte Ernte in Nordkorea schlecht ausgefallen und damit fehlt es an ausreichend Saatgut für das kommende Jahr. China ist nach wie vor ein wichtiger Lieferant von Nahrungsmitteln.

Was hat sich unter Kim Jong-Un in Nordkorea verändert?

Unter ihm ist Nordkorea zu einem Nuklearstaat geworden. Seine Machtposition ist gestärkt und in der Bevölkerung ist er populär, wozu auch zahlreiche ungezwungen erscheinende Auftritte beigetragen haben, gelegentlich auch mit seiner Frau. Sein Vater Kim Jong-il hielt sein Privatleben komplett aus der Öffentlichkeit.

Der Wohnungsbau wurde forciert und in einigen Bereichen sind Reformen eingeleitet worden. Ein Beispiel dafür ist ein Aufforstungsprogramm, wo sich Kim Jong-Un gegen Widerstand durchsetzen musste, der auf "Autarkie" besteht und auch noch jeden unfruchtbaren Boden für die Landwirtschaft nutzen will. Einige Baumaßnahmen sind kostenintensiv und dürften den Staatshaushalt belasten – zum Beispiel ein Delfinarium oder ein Wintersport-Ort. Trotz der internationalen Sanktionen erzielt Nordkorea ein Wirtschaftswachstum.

Das Nuklear- und Raketenprogramm hat allerdings das Verhältnis zu China erheblich belastet. Jong-Un hat seit seiner Amtsübernahme das Nachbarland noch nicht besucht.

Gibt es in Nordkorea Anzeichen für sozialen Ungehorsam und Protest?

Darüber ist kaum etwas bekannt. Wenn Prominente exekutiert werden, wie zum Beispiel der Onkel von Kim Jong-Un, dann interessiert es die Bevölkerung nicht sonderlich. Es könnte von der Bevölkerung eher als positiv aufgefasst werden. Nach dem Motto: Der "Oberste Führer" räumt auf und macht auch bei engen Verwandten keine Ausnahme.

Mit welchen Strafen müssen Flüchtlinge rechnen?

Das Strafmaß ist individuell unterschiedlich und hängt von ihrer Stellung in der Gesellschaft ab. Häufig droht Flüchtlingen eine lange Lagerhaft oder gar die Todesstrafe. In Nordkorea wird Sippenhaft praktiziert, das heißt: Auch Familie, Freunde und Arbeitskollegen eines Flüchtlings müssen mit Strafen rechnen.

Was ist über Arbeitslager in Nordkorea bekannt?

Es gibt umfangreiche Berichte der Vereinten Nationen über Straflager in Nordkorea. Die Berichte stammen beispielsweise aus den Jahren 2009 und 2014. Es existieren einige Schilderungen und Bücher von ehemaligen Lagerinsassen, die erschütternd sind. Die können aber von uns nicht überprüft werden.

Wie abgeschottet ist das Land wirklich? Welche Möglichkeit haben die Menschen, um an Informationen zu gelangen?

Es ist nicht völlig abgeschottet. Die Führung des Landes ist gut über das Ausland informiert. Über Wirtschaftskontakte mit China kommen auch Informationen nach Nordkorea. Im Umlauf sind viele CDs und andere Speichermedien mit Nachrichten aus dem Süden, vor allem aber mit Musik aus dem Bereich, der "K-Pop" genannt wird. Früher kamen pro Jahr rund 6.000 Touristen aus dem "Westen" und rund 30.000 aus China. Diese brachten natürlich auch Informationen mit, wenn sie Gespräche mit den staatlichen Reisebegleitern führten. Die Touristenzahlen sind aber drastisch zurückgegangen.

Wie sieht die Medienlandschaft aus?

Die Medien sind gleichgeschaltet. Aber es gibt für viele in Nordkorea durchaus Möglichkeiten, sich alternativ zu informieren. Datenträger werden immer kleiner und ihre Speicherkapazität wird immer größer. Deshalb ist es leichter geworden, solche Informationsquellen einzuschmuggeln. Es ist außerdem möglich, zwischen China und Nordkorea zu telefonieren, was auch zur Vorbereitung von Fluchten genutzt wird.

Wie ist die Situation der nordkoreanischen Flüchtlinge in China? Warum erkennt China die Flüchtlinge nicht an?

Die Situation für nordkoreanische Flüchtlinge ist schlecht, besonders für geflüchtete Frauen. Die Flüchtlinge leben illegal in China und können leicht ausgenutzt werden. Es gibt Vereinbarungen mit Nordkorea über Zwangsrückführungen. China wird die recht umfangreichen Aktivitäten von Flüchtlingshilfeorganisationen aus Südkorea in der Provinz Jilin und anderswo irgendwann nicht mehr dulden.

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Sind Flüchtlinge in Südkorea gut integriert?

Nein, das sind sie nicht. Diesen Flüchtlingen wird generell mit großem Misstrauen begegnet. Menschen im Süden behaupten, die aus dem Norden seien fast sofort an ihrem Akzent zu erkennen. In Gwangmyeong, einer Stadt, die sich unmittelbar südlich von Seoul befindet, leben über 100 Flüchtlinge aus dem Norden. Der dortige Bürgermeister ist sehr um ihre Integration bemüht. Ich habe mehrfach mit diesen Flüchtlingen gesprochen, einige von ihnen sind vor fast 15 Jahren geflohen und berichten noch immer von großen Schwierigkeiten. Es gibt sogar Flüchtlinge, die in den Norden zurückgehen. Seit einiger Zeit verlassen Flüchtlinge Südkorea und gehen in die USA und vermehrt nach Europa. London ist beliebt.

Hat die Weltgemeinschaft Hebel, um Oppositionelle in Nordkorea zu unterstützen?

Sie hätte Hebel, nutzt sie aber nicht. Eine gewaltsame Lösung von außen darf es nicht geben. Um Änderungen zu erreichen, muss im Innern Nordkoreas ein Wandel stattfinden und das Regime muss sich sicher fühlen. Das Regime hat bisher trotz großer Schwierigkeiten überlebt. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen: Zum einen funktioniert das Überwachungs-und Unterdrückungssystem noch gut, alle Informationsflüsse werden kontrolliert. Boykotte und Sanktionen sind falsch, denn sie bewirken das Gegenteil und unterstützen das Regime bei seinen Abschottungsbemühungen.

Welche Möglichkeiten hat Deutschland, um Menschen in Nordkorea zu unterstützen?

Gesprächsmöglichkeiten sollten immer genutzt werden. Außerdem sollten möglichst viele Stipendien und Praktikumsplätze für Menschen aus Nordkorea zur Verfügung gestellt werden. Politische Stiftungen hatten zahlreiche Kontakte nach Nordkorea und haben dort Seminare veranstaltet. Diese Programme einzustellen, bewirkt überhaupt nichts. Über eine Opposition in Nordkorea wissen wir kaum etwas, gewiss würden aber Kontakte die Informationslage dort verbessern. Kommunikation und Kooperation können langfristig Veränderungen bewirken, Boykott und Sanktionen verstärken dagegen Systemloyalität. Sie treffen die Bevölkerung, nicht das Regime.

Lesen Sie hier die ersten beiden Teile unserer Korea-Serie:

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