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Treibt Erdogan die Türkei jetzt aus der Nato? "Große Vertrauenskrise"


"Große Vertrauenskrise"
Treibt Erdogan die Türkei jetzt aus der Nato?

t-online, Daniel Reviol

Aktualisiert am 03.08.2016Lesedauer: 4 Min.
Türkische Soldaten in der Nähe der syrischen Grenze.Vergrößern des Bildes
Türkische Soldaten in der Nähe der syrischen Grenze. (Quelle: Reuters-bilder)
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Der Umbau des türkischen Staates ist in vollem Gang. Mit Unbehagen blicken die westlichen Nato-Mächte auf die Vorgänge. Gerüchte, wonach sich das Militär der Türkei nach dem gescheiterten Putsch in Richtung Russland orientiert, nähren die Sorge.

149 von 325 Generälen des türkischen Militärs hat die "Säuberung" von Präsident Recep Tayyip Erdogan getroffen. Darunter vor allem "Atlantiker", wie aus einem Bericht der US-amerikanischen Nahost-Seite "Al-Monitor" hervorgeht. Generäle, die an guten Beziehungen zur USA, Europa und der Nato interessiert waren.

Die Posten der Entlassenen sollen - zumindest zum Teil - Oberste aus der früheren rechtsextremen Ergenekon-Organisation übernommen haben. Sie gelten als US- und Nato-feindlich, offener für eurasische Ansichten.

Ein Signal für eine Abwendung weg von der Nato hin zu Russland? Die kürzliche Wiederbelebung der Beziehung zwischen Erdogan und dem russischen Präsidenten sowie das bevorstehende Treffen der beiden Autokraten könnten weitere Hinweise sein.

Militärbündnis Türkei/Russland: eher unwahrscheinlich

Trotzdem zweifeln Kenner an einem neuen Militärbündnis Türkei/Russland. Türkei-Experte Yasar Aydin hält es für plausibel, dass das Militär Ergenekon-Mitglieder in wichtige Positionen beförderte. Die Gruppe hatte einst die Regierung von Erdogan bekämpft, in den letzten Jahren war es aber über den gemeinsamen Feind - die Gülen-Bewegung - zu einer Annäherung gekommen. Zudem hatten sich Ergenekon-Anhänger klar gegen den Putsch positioniert.

Aydin sieht darin aber kein Zeichen für eine militärische Hinwendung zu Russland: "Wegen des abgeschossenen russischen Kampfjets war das Verhältnis bis vor kurzem noch extrem schlecht." Ein Militärbündnis wäre deshalb kaum vorstellbar. Beim Besuch von Erdogan in St. Petersburg am 8. August werde es vielmehr um wirtschaftliche Angelegenheiten gehen, zum Beispiel um das zwischenzeitlich eingefrorene Pipeline-Projekt "Turkish Stream".

Davon geht auch Ludwig Schulz vom Centrum für angewandte Politikforschung aus: "Neben wirtschaftlichen Dingen wird Erdogan sicher auch die verfahrene Lage in Syrien ansprechen." Aber auch in diesem Konflikt werde der türkische Präsident wohl nicht auf Russland setzen. Das Ziel der Türkei ist es laut Schulz, sich als Zentralmacht im Nahen Osten zu etablieren. "Sie will deshalb eine Position zwischen den Blöcken und den Großmächten einnehmen, um je nach Eigeninteresse reagieren zu können. Dies widerspricht dem Interesse Russlands, eine eigenständige Rolle im Nahen Osten spielen zu wollen."

Türkei ist von der Nato abhängig - aber...

Beide Wissenschaftler sind sich auch einig, dass die Abhängigkeit der Türkei von der Nato zu groß ist, um einen vollständigen Bruch zu riskieren. "Die Türkei profitiert vom Sicherheitsschirm der Nato. Beim Kampf gegen PKK- und IS-Terroristen und beim Grenzschutz ist das Land vor allem auf die USA angewiesen", sagt Aydin. Die Zusammenarbeit der Geheimdienste und bei Rüstungsprojekten ergänzt Schulz als weitere Punkte.

Der Politologe schränkt allerdings ein: "Erdogan ist innenpolitisch ein geschickter Machtstratege. Seiner Außenpolitik fehlt es hingegen an Berechenbarkeit, lässt er sich doch sehr leicht provozieren und verfolgt mit der Außenpolitik immer auch seine innenpolitische Agenda." Absolute Sicherheit gebe es deswegen nicht.

"Große Vertrauenskrise zwischen Nato und Türkei"

Aber selbst wenn es nicht zu einem Pakt mit Russland kommen sollte, steht für Aydin fest: "Die Türkei und die Nato stecken in einer großen Vertrauenskrise." Die Ursache scheint klar: Nach dem Militärputsch vom 15. Juli hatte die türkische Regierung der Nato vorgeworfen, dass einzelne Offiziere den Militäraufstand unterstützt hätten - beispielsweise sollen sie auf dem Nato-Luftwaffenstützpunkt Incirlik für die Betankung der Putschisten-Jets gesorgt haben. Die Türkei hatte zudem westliche Medien attackiert, die ihrer Ansicht nach kritisch über die Reaktionen Erdogans berichteten, den Putschversuch selbst aber nicht ausreichend verurteilten.

Neben der Auslieferung des Predigers Fethullah Gülens verlangt die Türkei nun, dass jene Nato-Offiziere, die den Putsch unterstützt haben könnten, zur Rechenschaft gezogen werden. Nato und USA sollen sich klar vom Putsch distanzieren.

"Vieles hängt jetzt vom weiteren Kurs Erdogans und der Haltung der amerikanischen Politiker ab", sagt Aydin. "Sollte Erdogan von dem Plan, ein Präsidialsystem in der Türkei durchzusetzen, noch abweichen, könnte das die Lage beruhigen. Danach sieht es aber derzeit nicht aus."

Türkei weiterhin wichtiges Nato-Mitglied

Die Nato müsse sich wohl auf einen längeren Konflikt einstellen, so Aydin. Das könne unter anderem Abschreckungsmaßnahmen der Nato gegenüber Russland in Osteuropa erschweren: Dabei spiele die Türkei eine wichtige Rolle, da sie mit ihrer militärischen Stärke vom Süden aus Druck auf Russland ausüben könnte. "Doch die Türkei wird da nicht mitmachen", erwartet Aidyn angesichts der angespannten Situation.

Neben diesen geografischen Aspekten und der enormen Truppenstärke sei die Türkei auch bei Manövern im Schwarzen Meer und der Ägäis sowie beim Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat wichtig für die Nato, erläutert Schulz. Schließlich lasse sich die Luftwaffenbasis in Incirlik nicht auf die Schnelle in ein anderes Land verlegen.

Die Nato könne auch aus diesen Gründen die Türkei nicht einfach fallen lassen, so Schulz. Stattdessen brauche es nun diplomatisches Geschick: "Speziell die USA werden Gespräche mit der türkischen Regierung suchen - und zwar hinter den Kulissen."

Umbau der türkischen Armee

Die Umstrukturierung des türkischen Militärs betrifft allerdings nicht allein die Beziehungen zu den Bündnispartnern. Folgende Maßnahmen hat die Türkei geplant:

  • vollständige Befreiung der Armee von Anhängern der Gülen-Bewegung, die die türkische Regierung für den Putschversuch verantwortlich macht
  • sämtliche Militärakademien werden geschlossen
  • Zahl der Wehrdienstleistenden soll reduziert werden; die Armee soll dadurch schlanker und professioneller werden
  • Kasernen sollen aus den Städten verbannt werden, um dem Militär im Fall eines erneuten Putsches den Zugriff auf die Großstädte zu erschweren
  • Gendarmerie und Küstenwache werden fortan komplett dem Innenministerium unterstellt
  • Der Generalstab untersteht nun direkt dem Präsidenten und dem Premierminister
  • Militärkrankenhäuser werden künftig dem Gesundheitsministerium unterstellt
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