Siegeszug im Nahen Osten Islamischer Staat operiert in zwei neuen Ländern
Die bärtigen Extremisten versammelten sich in der libyschen Küstenstadt Darna an einem kalten Abend Ende Oktober auf einer mit bunten Lichtern geschmückten Bühne. Mit einem lauten Sprechchor schworen die Männer dem Führer der Terrormiliz Islamischer Staat (IS), Abu Bakr al-Bagdadi, die Treue.
Damit machten die Extremisten Darna zur ersten Stadt außerhalb des Iraks und Syriens, die dem von den Dschihadisten ausgerufenen Kalifat beitrat.
Jetzt haben sich auch Dschihadisten auf dem Sinai offiziell IS angeschlossen - damit sind zwei neue Länder direkt von dem Siegeszug des "Kalifats" befallen. Weitere könnten folgen: Im chronisch instabilen Libanon gab es in Tripoli bereits erste Gefechte zwischen Anhängern des IS und dem Militär. Auch in Jordanien und den Golfstaaten soll die mittlerweile halbstaatliche Terrororganisation viele Anhänger haben.
IS schickt "Emir" nach Darna
Das gleiche gilt für Nordafrika: Ausgerechnet aus dem eigentlich stabilen Tunesien sollen besonders viele Dschihadisten in die Kriegsgebiete Syriens und des Irak gereist sein.
Was das für die betroffenen Länder bedeutet, zeigt sich unter anderem im libyschen Darna: Herrschten dort während der Revolution 2011 bei den Kämpfern Outfits im Stile Che Gueavaras und öffentliche Diskussionsrunden vor, so beherrschen jetzt finstere Bartträger, Morde und öffentliche Repression die Stimmung.
Wer nicht mitmacht, begibt sich in Lebensgefahr: Scharia-Milizen richteten bereits mehrere Menschen öffentlich hin. Einwohner, die Verstößen gegen das islamische Recht der Scharia beschuldigt wurden, wurden ausgepeitscht. Schüler und Schülerinnen werden nun getrennt unterrichtet.
Gegner der Extremisten gingen in den Untergrund oder flüchteten, einige wurden ermordet. Die Machtübernahme in der rund 1600 Kilometer von den IS-kontrollierten Gebieten entfernt gelegenen Stadt zeigt, wie die radikale Gruppierung örtliche Verhältnisse für ihre Zwecke nutzt.
Ein neuer "Emir" namens Mohammed Abdullah alias Abu al-Baraa al-Asdi leitet nun die Stadt, ein wenig bekannter jemenitischer Extremist, der vom IS aus Syrien nach Darna geschickt wurde. Dies berichten örtliche Aktivisten.
Stadträte umgebracht
Führende Mitglieder des Islamischen Staats kamen Anfang des Jahres aus dem Irak und Syrien und scharten innerhalb weniger Monate die meisten der seit langem rivalisierenden extremistischen Gruppierungen um sich. Gegner wurden Aktivisten zufolge umgebracht, darunter frühere Mitglieder des Stadtrats und ein ehemaliger Extremist.
Das Treuegelöbnis in Darna lässt den IS im ölreichen Libyen Fuß fassen. Bereits in den 80er und 90er Jahren war die Stadt während eines Aufstandes gegen Machthaber Muammar al-Gaddafi eine Hochburg von Extremisten gewesen. Während späterer Unruhen wegen der US-geführten Invasion im Irak kamen die meisten libyschen Selbstmordattentäter dort aus Darna. Im syrischen Bürgerkrieg sollen ganze Brigaden aus der Küstenstadt kämpfen.
Im Frühjahr kehrte eine Reihe von libyschen IS-Kämpfern nach Darna zurück und gründete eine neue Gruppierung, den Schura-Rat für die Jugend des Islams, die andere örtliche Extremisten anwarb. Im September kam Al-Asdi. Viele der Extremisten aus Darna traten der Terrormiliz bei, einige nicht.
Die wichtigste Gruppierung, die sich verweigerte, waren die Märtyrer der Abu-Salem-Brigade, einst die wichtigste Kraft in Darna. Die fundamentalistische Gruppe, die sich als nationalistisch-libysch versteht, tritt für eine demokratische Regierung ein, die allerdings die Gesetze der Scharia befolgen müsste. Sie kämpft seit einigen Monaten gegen den Schura-Rat.
Lebensgefahr für bekennende Liberale
Inzwischen müssen liberale Aktivisten, Anwälte und Richter um ihr Leben fürchten. Während landesweiter Wahlen im März und Juni stürmten die Extremisten Wahllokale, so dass der Urnengang in Darna zum Erliegen kam. Im Juli wurde die frühere liberale Abgeordnete Farieha al-Berkawi auf offener Straße erschossen. Ihr Tod habe die Gegner der Extremisten ganz besonders in Schrecken versetzt, sagt eine enge Freundin Al-Berkawis. "Die Leute hatten ihr Bestes getan, (um die Extremisten zu verjagen), und ernteten nichts als noch mehr Blutvergießen", erklärt sie.
Wer blieb, versucht sich zu arrangieren. Einige reichten Schreiben der Reue bei den Islamisten ein, in denen sie sich von ihrer früheren Mitarbeit bei den Behörden distanzierten. Auf den Facebook-Seiten des Schura-Rats finden sich entsprechende Schreiben eines Verkehrspolizisten, eines früheren Milizsoldaten und eines früheren Obersts von Gaddafis Sicherheitsapparat. Nachdem die Opposition zum Schweigen gebracht war, kamen extremistische Gruppierungen erstmals am 5. Oktober zusammen, um dem IS-Führer die Gefolgschaft zu geloben. Anschließend fuhren mehr als 60 Lastwagen mit Kämpfern in einer Siegesparade durch die Stadt.
Vergangene Woche kam es zu einer zweiten Versammlung, an der noch mehr extremistische Gruppierungen und Al-Asdi selbst teilnahmen. Sie leisteten einen formellen Treueschwur. Den Aktivisten zufolge sind die Regierungsbüros in Darna nun Büros des IS.
Autos mit dem Logo der "Islamischen Polizei" fahren durch die Stadt. Immer mehr Frauen tragen Gesichtsschleier. Vermummte peitschen junge Männer aus, die beim Trinken von Alkohol ertappt worden waren, wie ein früherer Stadtrat der Nachrichtenagentur AP sagte. An den Schulen wurden Geschichte und Geografie nach Aussage von zwei Aktivisten aus dem Lehrplan gestrichen. Die "Islamische Polizei" weist Bekleidungsgeschäfte an, ihre Schaufensterpuppen zu bedecken und keine "skandalöse Frauenkleidung" auszustellen.
Gegner der Extremisten wurden weitgehend zum Schweigen gebracht. Während des ersten Treffens der Islamisten habe sich Osama al-Mansuri, ein Dozent an der Hochschule für Schöne Künste in Darna, erhoben und die bärtigen Männer gefragt: "Was wollt ihr? Worauf seid ihr aus?", berichtet einer seiner Kollegen. Zwei Tage später wurde Al-Mansuri in seinem Auto erschossen.