"Eine Frage von Stunden" USA erwägen Bodentruppen-Entsendung zur Rettung der Jesiden
Die USA erwägen offenbar einen Militäreinsatz, um Tausende jesidische Flüchtlinge im Irak zu retten. Ein Lufteinsatz und Bodentruppen seien im Gespräch, so Barack Obamas Sicherheitsberater Ben Rhodes gegenüber dem TV-Sender Fox News. Letzteres würde bedeuten, dass US-Soldaten in direkte Kampfhandlungen mit Extremisten verwickelt werden könnten. Noch habe der US-Präsident den Einsatz nicht genehmigt.
"Wir müssen herausfinden, wie wir diese Bevölkerung an einen sicheren Ort bewegen und ihnen humanitäre Hilfe bringen können", so Rhodes. Erst am Dienstag waren rund 130 US-Soldaten im nord-irakischen Erbil eingetroffen, um vor Ort festzustellen, welche Schritte für einen humanitären Einsatz unternommen werden können.
Pentagon dementiert Pläne
Das Pentagon hat die Pläne für einen großangelegten Einsatz von Bodentruppen und Luftstreitkräften zunächst dementiert. "Es ist kein Rettungseinsatz in Arbeit", so Pentagon-Sprecher John Kirby. Wie das "Wall Street Journal" berichtet, hat US-Präsident Obama dem Vorhaben noch nicht zugestimmt. Das will das Blatt aus nicht genannten Quellen der US-Regierung erfahren haben.
Internationale Mission in Vorbereitung
Die USA stehen mit ihrem Vorhaben nicht alleine da: Die internationale Gemeinschaft plant nach einer Aussage des britischen Premierministers David Cameron im Irak eingeschlossene Flüchtlinge aus der Gefahrenzone zu holen. "Wir brauchen einen Plan, wie wir diese Menschen von dem Berg wegkriegen, an einen sicheren Ort", so Cameron am Mittwoch nach einer Sitzung seines Sicherheitskabinetts in London.
Es werde eine "internationale Mission" zur Rettung der Jesiden im Norden des Irak vorbereitet, sagte er. Großbritannien werde seinen Teil dazu beitragen, dass diese Mission ausgeführt werden kann, kündigte der Regierungschef an.
Eingekesselt von Schlächtern der IS-Miliz
Die Situation der Jesiden im Irak ist tödlich: Bei Tagestemperaturen von 45 Grad Celsius harren Zehntausende Jesiden in einem nordirakischen Sindschar-Gebirge aus und warten - eingekesselt von den Schlächtern der IS-Miliz - auf Hilfe. Für viele kommt die wohl zu spät.
Vor zehn Tagen begann ihre Odyssee, als die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) Dörfer und Städte in der Region Sindschar stürmte, wo Hunderttausende Anhänger der Religionsgemeinschaft leben, die von den Dschihadisten verteufelt wird.
Während in den vergangenen Tagen etwa 50.000 Glaubensbrüder und -Schwestern von kurdischen Kämpfern in Sicherheit gebracht wurden, warten die Alten, Kranken und Kinder - also all jene, die zu schwach für den gefährlichen Weg sind - auf Hilfe.
Viele liegen im Sterben
Lebensmittel, Trinkwasser und andere Güter, die von Flugzeugen über der Region abgeworfen werden, sind nur Tropfen auf dem heißen Stein. Denn viele der Flüchtlinge liegen inzwischen im Sterben.
"Es ist keine Frage von Tagen mehr, vielmehr von Stunden", sagt Holger Geisler, der Sprecher des Zentralrats der Jesiden in Deutschland. "Sie sterben an Hunger und Durst oder weil sie anfangen, Blätter oder Baumrinde zu essen und dadurch vergiftet werden oder ersticken."
Das Kinderhilfswerk UNICEF geht inzwischen davon aus, dass 56 Kinder in dem Gebirge ums Leben kamen.
Zehntausende ohne Wasser
Nach Einschätzung des Flüchtlingshilfswerks UNHCR sind im Sindschar-Gebirge noch 20.000 bis 30.000 Menschen ohne Wasser und Nahrung eingeschlossen. Die Region ist von IS-Extremisten umstellt.
Die Flüchtlinge besäßen fast nichts mehr, sagt UNHCR-Sprecher Ned Colt. Die brütende Hitze mache ihnen zu schaffen, viele erlitten einen Hitzschlag. In den kargen und steinigen Bergen gebe es nur wenig Bäume, unter denen sie Schatten finden könnten.
Hilfe verpufft
Die Hilfe, die Amerikaner, Briten und die irakische Armee aus der Luft abwerfen, erreicht längst nicht alle. Sie sind weit verstreut in einem Gebiet, das Dutzende Kilometer umfasst.
In den vergangenen drei Tagen konnten immerhin Zehntausende Flüchtlinge über einen von kurdischen Milizen freigekämpften Schutzkorridor in Sicherheit gebracht werden. Viele flohen in Richtung Syrien. "Tatsächlich sind Teile Syriens derzeit weniger gefährlich als der Irak", sagt UNHCR-Sprecher Colt.
Rund 15.000 Menschen fanden in der Nähe der Stadt Al-Kamischli in Nordsyrien Zuflucht. Die meisten kamen jedoch in Kurdistan unter. Die Autonomieregion im Nordirak stehe angesichts der knapp einer Million Flüchtlinge unter enormem Druck.
"Beispielloses" Flüchtlingsdrama
Den Hilfsorganisationen machen vor allem die häufigen Ortswechsel der Menschen zu schaffen. In anderen Krisen habe es schon höhere Flüchtlingszahlen gegeben, sagt die Sprecherin der Internationalen Organisation für Migration, Susan Megy. "Aber die Menschen ziehen umher und wechseln ihren Ort wöchentlich, täglich oder stündlich. Das ist beispiellos."
So habe es in der vergangenen Woche noch in der kurdischen Stadt Erbil ein Übergangslager gegeben. Als sich dort über SMS Gerüchte verbreitet hätten, die IS-Miliz rücke näher, hätten alle Flüchtlinge das Lager verlassen.
Der Jeside Dschalal Halul gehört zu jenen, die es mit ihrer Familie nach Erbil geschafft haben. Er ist in einer völlig überfüllten Schule untergekommen, hat noch keine Hilfe bekommen. Seine Tochter brauche dringend medizinische Versorgung, sagt der 45-Jährige. Er ist zugleich froh, den "IS-Verbrechen entkommen zu sein".
Hind Kitti vermisst ihre Familie. Mit ihren vier Kindern gelang der 43-Jährigen die Flucht. Ein Onkel und dessen Töchter wurden jedoch von IS-Kämpfern entführt. Deren Schicksal ist ungewiss.
Die Dschihadisten haben bereits zahlreiche Jesiden getötet, weil sie nicht konvertieren wollten. Viele Frauen wurden laut Augenzeugen zwangsverheiratet oder als Sklavinnen verkauft. Der 32-jährige Ladenbesitzer Taalu Chalaf sprach von einem "Wunder", dass er Erbil erreicht habe. Die Bilder von Dschihadisten, die in Sindschar auf Flüchtlinge schossen, wird er nie vergessen.