Brutales Bildmaterial Amnesty prangert Nigerias Armee im Kampf gegen Boko Haram an
Verdächtige werden gequält und ermordet: Laut Amnesty geht das Militär in Nigeria im Kampf gegen die Terrorsekte Boko Haram willkürlich und brutal vor. Die Menschenrechtler berufen sich auf drastisches Videomaterial (Achtung: Bilder aus Amnesty-Material zeigen extreme Gewalt).
Abuja - Ihr Grab müssen sie selbst ausheben - mit Hacke und Schaufel buddeln zwei Männer ein Loch in die rötliche Erde. Einer der beiden Männer muss sich auf Befehl eines Uniformierten an den Rand der Grube legen, in der mittlerweile Leichen liegen. Der Uniformierte brüllt Befehle, um ihn herum stehen weitere Männer in Tarnkleidung. Er nimmt das Messer, küsst es. "Ja, Chef, töte ihn", rufen die anderen, dann schlitzt der Mann dem am Boden Liegenden die Kehle auf.
Wieder ist eine Grube zu sehen, diesmal liegt ein Mann in einem weißen Gewand am Rand, auch ihm wird die Kehle durchtrennt. Wieder sind bewaffnete Uniformierte anwesend, mehrere Gefangene müssen bei der Hinrichtung zuschauen.
Die grausamen Filmszenen stammen laut Amnesty International aus dem Nordosten Nigerias nahe der Provinzhauptstadt Maiduguri. Die Bilder sind den Angaben zufolge im März dieses Jahres aufgenommen, "Spiegel Online" zeigt nur Ausschnitte (siehe Video).
Die Getöteten wurden nach Recherchen von Amnesty verdächtigt, Mitglieder der radikalislamischen Terrorsekte Boko Haram (übersetzt "Westliche Erziehung ist Sünde") zu sein. Hingerichtet wurden die Männer, so der Vorwurf von Amnesty, durch die nigerianische Armee und militante Bürgerwehren, die sogenannten Civilian Joint Task Forces (CJTF), die vom Staat finanziert werden. Laut Menschenrechtler legen das die Uniformen und Gewehre der Männer nahe. Mehrere Zeugen und Quellen aus Militärkreisen hätten dies unabhängig voneinander bestätigt, so Amnesty.
Tausende Opfer, Hunderttausende Flüchtlinge
Die Terrorgruppe Boko Haram terrorisiert seit Jahren den Norden Nigerias: Anhänger entführen Mädchen, attackieren Dörfer, zünden Autobomben, ermorden Menschen. Seit 2001 soll es mehr als 10.000 Tote bei den Kämpfen gegeben haben, knapp 300.000 Menschen mussten fliehen. Weitere Aufnahmen von Amnesty aus der Stadt Bama, 70 Kilometer südöstlich von Maiduguri, vom Februar zeigen verhüllte Leichen, ausgebrannte Häuser und Schulen.
Die Menschenrechtsorganisation spricht allein für dieses Jahr von 4000 Menschen, die in dem Konflikt gestorben seien - die meisten Zivilisten. "Die Menschen können sich in diesem Teil des Landes nicht mehr sicher fühlen. Sie werden konstant von Boko Haram attackiert", sagt Makmid Kamara, Mitarbeiter von Amnesty International.
Doch auch der Staat greift offenbar zu brutalen Mitteln. "Nigerianische Truppen verhaften junge Frauen und Männer als Antwort auf die Attacken von Boko Haram. Viele Menschen sterben in der Gefangenschaft", so Kamara.
Das Militär, eigentlich eines des bestgerüsteten des Kontinents, steht seit Langem in der Kritik. Zeugen von Angriffen berichten, dass die Armee vor den nahenden Boko-Haram-Kämpfern geflohen sei, statt zu kämpfen. Es gibt Gerüchte, dass Teile der Sicherheitskräfte mit der Sekte zusammenarbeiten.
Selektion auf dem Marktplatz
Nichtregierungsorganisationen haben der Armee immer wieder Gewaltexzesse vorgeworfen. So wurden auch Familienangehörige von mutmaßlichen Boko-Haram-Verdächtigen inhaftiert. Es scheint, als habe Nigerias Präsident Goodluck Jonathan das Militär im Nordosten des Landes nicht mehr im Griff. Im Bundesstaat Borno herrscht seit mehr als einem Jahr der Ausnahmezustand.
Ein weiterer Übergriff soll sich in Bama zugetragen haben. Amnesty zufolge mussten sich im Juli vergangenen Jahres mehr als 300 verdächtige Männer unter Aufsicht des Militärs ausziehen und aufstellen. Einer nach dem anderen wurde nach vorne geschoben, zu einem Mann in einem Auto. Der entschied dann, ob die Verdächtigen nach links oder rechts gehen mussten. Links hieß: Boko-Haram-Angehöriger, rechts: Unschuldiger. Die 35 angeblichen Terrorkämpfer wurden unter Schlägen auf Lastwagen des Militärs gezwungen und zur Hinrichtung abtransportiert.
"Das zeigt, wie hoch das Maß an Straflosigkeit ist, und wie sehr der Rechtsstaat bei der Verfolgung von Boko Haram missachtet wird", sagt Amnesty-Mitarbeiter Kamara. Die Menschenrechtler appellieren an die nigerianische Regierung, die Verbrechen der Streitkräfte unverzüglich aufzuklären. Ein Sprecher des Armee sagte der Nachrichtenagentur Reuters, die Militärbehörden würden die "schwerwiegenden Vorwürfe" "sehr ernst" nehmen. Man untersuche die Aufnahmen. "Dieses Level der Barbarei und Straflosigkeit hat keinen Platz in der nigerianischen Militärs", ergänzte er.
Nach Angaben von Amnesty stammen die veröffentlichten Filmsequenzen auch von Militärsoldaten und Polizeikräften. Diese haben die brutalen Szenen mit ihren Video- und Handykameras aufgenommen - als Erinnerungsstücke.