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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Baerbock im Nahen Osten Kurz vor dem Kollaps
Außenministerin Annalena Baerbock reist nach Israel. Die humanitäre Lage im Gazastreifen ist katastrophal, das verschärft die Kritik an der israelischen Kriegsführung. Auch für Deutschland wird das zum Dilemma.
Patrick Diekmann berichtet aus Jerusalem.
Es ist eine heikle Mission, besonders für eine deutsche Außenministerin. Als Annalena Baerbock (Grüne) am Sonntagnachmittag in Israel landet, fällt es auf den ersten Blick nicht auf, dass sich das Land seit dem Terrorangriff der Hamas im Oktober 2023 im Kriegszustand befindet. Lediglich die Leere am Flughafen Ben Gurion in Tel Aviv verrät, dass etwas nicht normal ist. Vergleichsweise wenige Flugzeuge sind auf der Rollbahn, auf der Autobahn herrscht kaum Verkehr. Auch nur wenige Soldatinnen oder Soldaten sind auf den Straßen zu sehen. Lediglich in der Ferne lassen sich am Flughafen die Umrisse einer Raketenabwehreinheit des israelischen Iron Dome erahnen.
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Für Baerbock geht es im Nahen Osten nicht nur darum, Deutschlands Solidarität mit Israel nach dem von der Hamas begonnenen Krieg zu demonstrieren. Vielmehr verfolgt sie darüber hinaus zwei Ziele: Einen besseren Schutz der palästinensischen Zivilbevölkerung im Gazastreifen und die Verhinderung eines Flächenbrandes in der Region. Um ebendiese Ziele zu erreichen, ist aktuell nicht nur die Grünen-Politikerin, sondern auch US-Außenminister Antony Blinken in der Region. Vor allem mit Blick auf die Lage in Gaza wollen die USA und Deutschland gemeinsam den Druck auf die israelische Führung erhöhen.
Beiden geht es auch darum, Israel vor sich selbst zu schützen. Denn wenn eine weitere Eskalation in der Region verhindert wird, schützt das am Ende auch Israel. Dabei ist keine Zeit zu verlieren. Die Lage für die Menschen im Gazastreifen ist dramatisch, nicht nur das Gesundheitssystem steht kurz vor dem Kollaps.
Tausende zivile Opfer im Gazastreifen
"Das Drehbuch des Terrors darf nicht noch weiter aufgehen", sagt Baerbock daher schon vor ihrem Abflug am Sonntag in Berlin. "Der Terror muss ein Ende haben. Die humanitäre Not muss ein Ende haben."
In der Tat scheint das Drehbuch des Hamas-Terrors aufzugehen, auch wenn die Islamisten militärisch in diesem Konflikt unterliegen. Am 7. Oktober 2023 griffen Hamas-Terroristen Israel an, mehr als 1.200 Menschen starben. In dem daraus resultierenden Krieg geht die israelische Armee gegen Hamas-Stellungen im Gazastreifen vor, mit einem Ziel: Die Terrororganisation soll endgültig zerschlagen werden, damit nie wieder ein derartiger Angriff auf die israelische Zivilbevölkerung erfolgen kann. Aber der Preis dafür ist hoch.
Mittlerweile liegen weite Teile des Gazastreifens in Trümmern. Das liegt auch daran, dass die Hamas ihre Kommandoposten und Waffendepots nicht nur in einem unterirdischen Tunnelnetzwerk, sondern auch in zivilen Gebäuden versteckt. Die israelische Armee bekämpft vermutete Stellungen mit Luftschlägen, Drohnenangriffen und Artilleriebeschuss, entsprechend zerstörerisch ist die Wirkung.
Die palästinensische Gesundheitsbehörde in Gaza geht von 22.000 Menschen aus, die durch israelischen Beschuss ums Leben kamen. Die Behörde wird von der Hamas kontrolliert, die Zahlen können nicht unabhängig überprüft werden. Trotzdem sind sich Expertinnen und Experten einig, dass der Krieg bisher Tausende zivile Opfer im Gazastreifen gefordert hat.
Mittlerweile sind laut Angaben der Vereinten Nationen zudem dort 42 Prozent aller Häuser zerstört, unbewohnbar oder beschädigt. Augenzeugen erzählen t-online, dass der nördliche Gazastreifen aussehe wie eine Mondlandschaft. Von vielen Häusern seien nur noch Ruinen übrig geblieben. Unter den zerstörten Gebäuden ist auch die einzige Entsalzungsanlage, die von den Menschen im Norden des Gazastreifens genutzt wurde. Die Menschen brauchen also Trinkwasser. Insgesamt sind 1,9 Millionen Palästinenser auf der Flucht, das sind 85 Prozent der Bevölkerung Gazas.
Krieg ist Nährboden für die Hamas
Für die meisten westlichen Staaten steht außer Frage, dass Israel das Recht hat, sich gegen den Hamas-Terror zu verteidigen. Doch es ist durchaus fraglich, ob das zerstörerische Vorgehen in dem Krieg geeignet ist, die Hamas endgültig zu besiegen.
Wenn also Baerbock von einem "Drehbuch des Terrors" spricht, meint sie vor allem eines: Für die Terrororganisation Hamas ist der Krieg ein Nährboden. Jeder Mensch im Gazastreifen, der durch israelischen Beschuss Familienmitglieder verliert, ist für sie ein potenzielles neues Mitglied im Kampf gegen den israelischen Staat. Die Waisen von heute könnten die Terroristen von morgen werden. Angesichts der hohen Zahl an zivilen Opfern ist das für Israel ein brandgefährliches Szenario.
Die deutsche Außenministerin wirbt während ihres Israel-Besuchs daher für mehr gegenseitige Empathie. Es sei unvorstellbar schrecklich, Familienmitglieder bei einem Terroranschlag zu verlieren. Andererseits sei es unerträglich, wenn palästinensische Familien unter den Trümmern ihrer Häuser begraben werden: "Die Sicherheit des einen bedeutet die Sicherheit des anderen", sagt Baerbock bei einem Pressestatement am Sonntag in Jerusalem.
"Wir brauchen eine weniger intensive Operationsführung"
Zugleich erhöht die Außenministerin den Druck auf Israel, seine Militärstrategie zu hinterfragen – ohne indes den Verursacher des Krieges infrage zu stellen: "Wenn die Hamas ihren fanatischen Kampf nicht fortsetzen würde, wäre der Krieg schon längst vorbei", sagt sie. Die israelische Armee müsse jedoch Wege finden, die Hamas zu bekämpfen, ohne dass so viele palästinensische Menschen Schaden erleiden: "Wir brauchen eine weniger intensive Operationsführung. Das kann so nicht weitergehen."
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Neben der Art der Kriegsführung drängen Deutschland und die USA aber auch auf einen schnelleren und vermehrten Zugang von humanitärer Hilfe in die Region.
Einfach ist die Mission nicht. Der Hamas-Terror traf Israel in einer Zeit, in der die Gesellschaft tief gespalten war. An der Spitze der Regierung steht mit Benjamin Netanjahu ein Mann, der sich in das Amt des Ministerpräsidenten rettete, damit er sich nicht wegen Korruption vor Gericht verantworten muss. Er verdankt seine Macht einer Regierung, der Extremisten und Hardliner angehören, die teilweise noch ein viel härteres Vorgehen in Gaza gegen die Palästinenser fordern. So fabulierte Israels Minister für Kulturerbe, Amichay Eliyahu, im November von einem Atombombenabwurf über dem Gazastreifen.
Neue Phase des Krieges?
Die gesellschaftlichen Risse werden aktuell von dem Krieg und dem Trauma überdeckt, die der Terrorangriff vom 7. Oktober auslöste. Die Forderungen nach einem Rücktritt Netanjahus sind vorerst verstummt. Und das, obwohl ihm für das Versagen der Sicherheitskräfte vor dem Terrorangriff der Hamas mindestens eine Teilschuld gegeben wird. Seine umstrittene Justizreform, gegen die vor dem Krieg die Menschen in Massen auf die Straße gingen, scheiterte zuletzt vor dem Obersten Gericht.
Zugleich kann die israelische Führung momentan noch nicht sagen, was nach dem Krieg kommt. Bislang scheint sie keinen Plan zu haben.
Deswegen geht es für Israels westliche Partner vorerst darum, durch kontinuierlichen Druck eine punktuelle Verbesserung der Lage in Gaza, aber auch insgesamt in der Region zu erreichen. Diese Strategie ermöglichte die Öffnung eines zusätzlichen Grenzübergangs zum Gazastreifen für Hilfslieferungen. Das kann jedoch nur ein erster Schritt sein.
Angst vor einem Flächenbrand in der Region
Israel hat angekündigt, dass der Krieg nun in eine "neue Phase" eintreten werde. Die Flächenbombardements sollen enden, dafür soll gezielt gegen Hamas-Funktionäre vorgegangen werden. Es könnte ein erstes Zeichen sein, dass der westliche Druck wirkt. Deutschland bietet Geld und humanitäre Hilfe. Die Amerikaner helfen der israelischen Armee bei der genauen Aufklärung von Hamas-Zielen.
Die diplomatische Offensive von Baerbock und Blinken soll jedoch verhindern, dass sich der Konflikt in der Region weiter ausbreitet. Ein Flächenbrand droht mehr denn je, seit der Hamas-Funktionär Saleh al-Aruri in Beirut bei einem Anschlag getötet wurde, wofür Israel verantwortlich gemacht wird. Seit Sonntag feuert die Hisbollah als Antwort darauf massiv Raketen vom Süden des Libanon nach Israel. Die Lage ist angespannt.
Baerbock reist daher nach einem Besuch im Westjordanland weiter nach Ägypten und in den Libanon. Blinken hält sich bereits seit Freitag in der Region auf. Er war zunächst in Jordanien und reist nach einem Besuch in Katar nun weiter in die Emirate und nach Saudi-Arabien, bevor er in Israel eintrifft.
- Begleitung der Reise von Außenministerin Baerbock nach Israel