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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Historikerin Scherbakowa "Wir konnten kurz Panik im Kreml sehen"
Wladimir Putin galt im Westen als Hoffnungsträger, heute führt er einen Angriffskrieg. Die Menschenrechtlerin Irina Scherbakowa erklärt, warum sie den Kremlchef früh für gefährlich hielt – und was sie Putin noch alles zutraut.
Ein demokratisches und friedliches Russland, das erhoffte sich die westliche Welt nach dem Untergang der Sowjetunion. Doch die russische Demokratie ist von Wladimir Putins Regime schon seit langer Zeit demontiert worden; spätestens mit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 sind auch alle Illusionen auf Frieden dahin. Irina Scherbakowa setzt sich aus dem Exil mit ihrer Menschenrechtsorganisation Memorial weiterhin für ein anderes Russland ein. Im vergangenen Jahr wurde Memorial dafür mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
Im t-online-Gespräch erklärt die Historikerin, warum die russische Gesellschaft trotz horrender Verluste in der Ukraine passiv bleibt, wie lange Putin den Krieg wohl weiterzuführen bereit ist und wo seine allumfassende Kontrolle über das Land erste Risse aufweist.
t-online: Frau Scherbakowa, wann haben Sie erkannt, wie gefährlich Wladimir Putin ist?
Irina Scherbakowa: Bei Putin hatte ich von Anfang an ein schlechtes Gefühl. Ich erinnere mich an Silvester 1999, als Boris Jelzin im Fernsehen seinen Rücktritt als Präsident erklärte und Putin als Nachfolger ankündigte. Das hat mir die Feier verdorben, denn diese Personalie erschien mir als brandgefährlich.
Für die meisten ihrer Landsleute war Putin damals ein unbeschriebenes Blatt.
Ich wusste um Putins Herkunft und seine Karriere im KGB, auch um seine Beziehungen zur Staatssicherheit der DDR. Und es wurde viel über seine kriminelle Vergangenheit während seiner Zeit in Sankt Petersburg geredet. Schnell war absehbar, dass mit ihm keine demokratische Entwicklung des Landes möglich sein würde.
Anfangs sahen viele Menschen in ihm jedoch den ersehnten Retter aus dem Chaos der Postsowjetzeit.
Das war eine Täuschung. Putin begann sehr schnell mit der Einschränkung von Freiheiten – als Erste waren die Medien dran, vor allem das unabhängige Fernsehen sollte unter Kontrolle gebracht werden. Auch wir bei Memorial spürten schnell den Druck. Er wurde immer stärker. Nach den Massenprotesten gegen die Wahlfälschungen bei den Parlamentswahlen 2011 wurde es für uns gefährlich. Bald darauf gab es das restriktive Gesetz über angebliche "ausländische Agenten", natürlich stand auch Memorial auf der Liste. So wurden wir zu Staatsfeinden erklärt. Putin war schon damals gemeingefährlich, er drehte Russland in Richtung des Autoritarismus.
Irina Scherbakowa, 1949 in Moskau geboren, ist Historikerin, Germanistin, Übersetzerin und Mitbegründerin der nichtstaatlichen Menschenrechtsorganisation Memorial, die mittlerweile in Russland verboten ist. Scherbakowa war für die wissenschaftliche Arbeit wie die Bildungsarbeit von Memorial zuständig. 2022 erhielt Memorial den Friedensnobelpreis. Scherbakowa lebt in Deutschland und Israel, 2017 veröffentlichte sie das Buch "Die Hände meines Vaters", eine Geschichte ihrer Familie.
Hätten Sie es ihm aber schon vor 2022 zugetraut, einen Großangriff auf die Ukraine zu befehlen und damit die europäische Friedensordnung zu zerstören?
Putin ist vieles zuzutrauen – das weiß ich heute. Vor dem 24. Februar 2022 konnte auch ich einfach nicht glauben, dass er diesen Schritt wagen würde, nicht nur den Donbas, sondern die ganze Ukraine anzugreifen. Trotz der Besetzung der Krim 2014, trotz der pseudohistorischen Schriften aus dem Kreml, in denen Putin behauptet, dass die Ukraine niemals eine selbstständige Nation gewesen sei und er ihr das Existenzrecht abspricht. Meine Tochter war hellsichtiger als ich: Sei nicht blind, warnte sie mich, der Krieg ist unvermeidbar.
Seine Skrupellosigkeit hat Putin auch früher immer wieder demonstriert, etwa in Tschetschenien und in Syrien. Warum glaubten Sie, dass er vor einem großen Krieg zurückschrecken würde?
Putin und seine Leute sind Kriminelle, Recht und Gesetz bedeuten ihnen nichts. Aber ich hielt sie auch zeitweilig für typische Mafiosi, die eben keine Selbstzerstörung betreiben.
Die westlichen Regierungschefs und Diplomaten meinten ebenfalls, dass im Kreml Pragmatiker sitzen.
Da haben sie sich bitter getäuscht. Aus dem Pragmatiker und Kriminellen wurde ein Herrscher, der die sogenannte russische Welt wiederherstellen will. Das sind jetzt Putins Ziele – und er ist bereit, den Krieg so lange zu führen, bis er das erreicht hat. Oder den ewigen Krieg zu führen, den er jetzt einen "nationalen befreienden Krieg" nennt. Das macht ihn so ungeheuer gefährlich.
Während Russland den Weg in die Autokratie ging, strebt die Ukraine gen Westen. Wie erklären Sie diese Entwicklung?
Die Ukrainer haben ein ganz anderes Selbstverständnis als die Russen. Sie sind überzeugt, dass ihr Land zu Europa gehört. Und sie sind sich bewusst, dass sie ihr Land verteidigen müssen. Deshalb haben sie schon nach der russischen Krim-Besetzung 2014 in der Ostukraine gekämpft, und sie haben sich für den aktuellen Krieg vorbereitet.
Was war Ihr erster Gedanke, als Sie am 24. Februar 2022 vom russischen Überfall hörten?
Ich war geschockt, als meine Tochter mir eine SMS schrieb: "Sie bombardieren Kiew!" Den Zweiten Weltkrieg habe ich nicht selbst miterlebt, aber mein Vater ist damals als junger Mann aus der Ukraine in den Krieg gezogen. Nun herrschte erneut ein großer Krieg! Als ich mich gefasst hatte, fand ich Trost in der Überzeugung, dass die Ukrainer sich mit allem, was sie haben, gegen die Angreifer wehren würden.
Nun währt der Krieg schon bald zwei Jahre, die russischen Verluste sind bei ausbleibenden Erfolgen gewaltig. Warum wirken die Menschen in Russland trotzdem so passiv?
Man muss den Kontext sehen. Nach der Besetzung der Krim 2014 und den Kämpfen in der Ostukraine machte es sich bemerkbar, dass diejenigen, die dagegen auftraten, in Russland in der Minderheit waren. Es gab Proteste, aber sie waren nicht stark genug. Ein Großteil unserer Landsleute begrüßte den Einmarsch auf die Krim, darunter auch oft Menschen, die 2011 gegen die Wahlfälschungen auf die Straße gegangen waren. Ein anderer Teil lebte immer mehr in Angst vor dem Regime. Wieder andere profitierten vom Regime durch wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg. Alle diese Gründe überschneiden sich und gelten bis heute. Anpassung ist das richtige Wort, um das Verhalten der Mehrzahl der Menschen in Russland gegenüber der Staatsmacht zu beschreiben.
Trotzdem bleiben Fragen. Sie haben sich mit ihren Mitstreitern über Jahrzehnte für Menschenrechte und den Aufbau einer Zivilgesellschaft in Russland eingesetzt. Warum ist dieses Vorhaben gescheitert?
Das hat viel mit den Neunzigerjahren zu tun. Einerseits war es im Vergleich zur heutigen Diktatur die Zeit der Freiheit wie einer freien Presse, es entstanden damals Tausende zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich etwa für Frauenrechte, Umweltschutz und vieles andere eingesetzt haben. Andererseits wurde die Bevölkerung von den marktwirtschaftlichen Reformen hart getroffen. Und in diesem Sinne war es eine Zeit des Chaos; vor allem in den Regionen haben die Menschen sehr gelitten.
Putin gerierte sich als starker Mann, der für Ordnung sorgen konnte.
Genau. Er kam und versprach den Menschen Stabilität – nur sollten sie sich nicht in die Politik einmischen, das sei die Sache des Staates. Und es spielte Putin in die Hände, dass die marktwirtschaftlichen Reformen nun zu wirken begannen. Auch die Ölpreise stiegen stark. Löhne und Renten konnten ausgezahlt werden, die Menschen waren dann bereit, die Freiheit gegen diese Scheinstabilität zu tauschen. Putins Regime basiert auf Zustimmung und Bedrohung gleichermaßen. Beim Einsatz von Gewalt gegen Andersdenkende gibt es in Russland kaum noch eine Hemmschwelle.
Gibt es aber in Russland wirklich gar keinen Raum mehr für Kritik am Regime?
Nischen existieren noch. Nicht alle, die gegen Putin sind, können einfach das Land verlassen. Einige wenige kritische Verlage versuchen weiterzuarbeiten, auch in manchen Theaterstücken wird Kritik geäußert. Es gibt zudem immer wieder einzelne Proteste. Aber alles nur noch in engem Rahmen und immer unter der Bedrohung durch Polizei und Geheimdienste.
Das Regime versucht, Russland als monolithischen Block zu präsentieren. Gibt es keine politischen und gesellschaftlichen Risse, die in Zukunft Sprengkraft entfalten könnten?
Selbstverständlich gibt es Risse, die gab es schon immer. Ein Beispiel waren die Proteste gegen die gewaltigen Umweltprobleme oder die grobe Einmischung Moskaus in die regionale Politik. So im Gebiet Archangelsk, auch in Chabarowsk, das ging lange Zeit. Der Krieg selbst ist auch ein Riss, wir wissen aber nicht, ob und wann der sich vergrößert. Wenn man den Umfragen glauben kann ist fast die Hälfte der Bevölkerung für den Frieden. Nur bedeutet das nicht, dass sie sich gegen Putin erheben werden.
War die Revolte der Wagner-Söldner unter Jewgenij Prigoschin ebenfalls so ein Riss?
Dieser Aufstand war in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Erstens hat er gezeigt, dass Prigoschin in solch einer Situation auf fast keinen Widerstand getroffen ist. Zweitens konnten wir – wenn auch kurz – Panik im Kreml sehen. Prigoschin wurde dann auf dubiose Weise beseitigt. Kein Verfahren, keine Anklage … So war er Putin noch von Nutzen.
Wie meinen Sie das?
Die offizielle Begründung für den Absturz von Prigoschins Flugzeug war völlig unglaubwürdig. Die Leute an Bord hätten sich im Drogenrausch selbst in die Luft gesprengt: Jeder versteht, dass das ein Lüge ist. Interessant ist aber, dass die Machthaber in Russland bisweilen gar keine überzeugenden Erklärungen brauchen. Der Kreml verbreitet seit jeher absichtlich unlogische und unglaubwürdige Informationen, um die Menschen rätseln zu lassen. Das Regime soll unberechenbar erscheinen, denn das verstärkt die Angst vor ihm. Putin betreibt dasselbe perfide Spiel. Bisweilen geht dabei allerdings etwas schief.
Haben Sie ein Beispiel?
Schauen Sie auf die antisemitischen Hetzjagden in Dagestan: Da hat sich gezeigt, wie schnell auch in Russland eine Situation außer Kontrolle geraten kann. Die russischen Sicherheitskräfte tun nichts mehr ohne einen Befehl aus Moskau. Wenn der nicht schnell genug kommt, herrscht Chaos. Alles in Russland ist auf Putin zugeschnitten. Als Einzelperson kann Putin die Lage aber gar nicht vollständig unter Kontrolle haben.
Ein verunsicherter Diktator ist umso gefährlicher. Erst recht, wenn er über Atomwaffen verfügt.
Ich traue Putin sehr vieles zu.
Auch den Einsatz einer Atomwaffe?
Ich bin keine Militärexpertin. Wenn ich mich aber an den skrupellosen Umgang der russischen Truppen mit dem Atomkraftwerk Saporischschja erinnere oder an die Sprengung des Staudamms von Kachowka, komme ich zu dem Schluss, dass Putin nichts heilig ist. Nur die Angst vor der Selbstzerstörung kann ihn vielleicht von völlig verrückten Schritten abhalten.
Gibt es denn niemanden mehr, dessen Rat er beherzigt?
Putin wird immer radikaler und fanatischer, er hält sich für den Retter Russlands. Tatsächlich hört er angeblich nur noch ein paar Leuten aus seiner Umgebung zu. Genau kann man es nicht wissen, es hüllt sich alles in Schweigen. Der eine soll der Milliardär Juri Kowaltschuk sein. Am Anfang des Krieges gegen die Ukraine war es Nikolai Patruschew, Sekretär des russischen Sicherheitsrats. Diese drei Männer haben mit großer Wahrscheinlichkeit den Krieg gegen die Ukraine beschlossen.
Kowaltschuk und Patruschew: Könnte einer der beiden das Rennen um die Macht gewinnen, falls Putin ausfällt?
Das wissen die Betreffenden wahrscheinlich nicht einmal selbst. Realistischer wäre es nach einem Machtwechsel durchaus, dass der neue Chef im Kreml Putin die Schuld an allem zuschiebt, was schiefgegangen ist. Aber das sind momentan alles nur Spekulationen.
Und bis dahin, wie lange kann Putin den Krieg noch fortführen?
Putin wird so lange Krieg führen, wie er kann. Er will einen Frieden nur zu seinen Bedingungen erzwingen. Das aber würde ganz Europa auf Jahrzehnte hinaus destabilisieren. Deshalb ist es so wichtig, die Ukrainer weiter mit allem zu unterstützen.
Frau Scherbakowa, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Irina Scherbakowa via Videokonferenz