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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Baerbock im Kaukasus Plötzlich kommt der große Knall
Annalena Baerbock besucht auf ihrer Kaukasus-Reise ein Grenzabschnitt in Armenien, in dem es regelmäßig zu Schusswechseln kommt. Wie kann dieser Konflikt gelöst werden? Vor Gesprächen der Außenministerin sorgt vor allem die Türkei für Kopfschmerzen.
Aus Baku berichtet Patrick Diekmann
Es ist ein Ort, der auf den ersten Blick unwirklich und ruhig erscheint. Der Südosten Armeniens besteht hauptsächlich aus einer großen Steppe mit zahlreichen Hügeln und Berge. Viele Steine, kaum Bäume und Sträucher. Kaum grüne Vegetation, eine eher karge und lebensfeindliche Landschaft. Auf der Fahrt von der armenischen Hauptstadt Eriwan nach Jerashk sind nur vereinzelt Häuser zu sehen, nur wenige Menschen scheinen in diesem Teil des Landes zu leben.
Doch die Stille täuscht. Erst auf dem zweiten Blick wird klar, dass die wenigen Menschen an diesem Ort in stetiger Gefahr leben. In der Region hat Armenien jeweils gemeinsame Grenzen mit dem Iran, der aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan und der Türkei. Immer wieder kommt es entlang der Grenzen zu Schusswechseln, von Militärstützpunkten haben sich Scharfschützen gegenseitig im Visier. Ein Pulverfass, das stetig zu explodieren droht.
Ein Symbol für diese bedrohliche Kulisse: Über der Region thront der ruhende Vulkan Ararat in der Türkei – immerhin mehr als 5.000 Meter hoch. Ein riesiger Felsklotz mit weißem Gipfel, der durch seine biblische Geschichte vor allem für viele Christen heilig ist. So sieht auch am Samstagvormittag die Delegation von Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) viele Minuten vor Ankunft an der Grenze den großen Berg. Der Felsriese könnte auch für die große Gefahr stehen, die für Armenien durch die Türkei im Hintergrund lauert.
Baerbock reiste auch in den Südkaukasus, um den Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien zu entschärfen. Doch auch am zweiten Tag ihres Besuches wird klar: Das Leid der Menschen durch diesen Konflikt ist ähnlich groß, wie der gegenseitige Hass. Das macht die Mission der Außenministerin heikel. Eine Eskalation auf der Pressekonferenz in Aserbaidschan zeigt, wie angespannt das Verhältnis zwischen Aserbaidschan und Deutschland in einer Frage ist. Am Ende ihrer Reise kam er: Der große Knall.
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Scharfschützen-Krieg in der Grenzregion
"Hier wurde zuletzt im Juni geschossen", sagt ein Sprecher der zivilen EU-Mission EUMA in der Nähe des Ortes Jerashk und zeigt dabei auf eine Hügelkette, in der aserbaidschanische Militärposten sein sollen. EUMA soll die Sicherheitslage entlang der armenischen Seite der Grenze beobachten. Die Mitarbeiter aus 22 EU-Staaten beobachten die Grenzposten aller Konfliktparteien und versuchen dort zu helfen, wo die Angst der Anwohner vor einer Eskalation besonders hoch ist.
Die EUMA hat ihre Arbeit Ende Februar aufgenommen, Mitte September waren gut 85 Mitarbeiter aus 22 EU-Staaten im Einsatz. Deutschland stellt aktuell mit 16 Mitgliedern und einem Bundespolizisten als Missionsleiter das größte Kontingent. Als Kosten für zwei Jahre sind knapp 31 Millionen Euro angesetzt. Deutschland stehe laut Angaben der Außenministerin bereit, sich intensiver zu engagieren. Es sei eine neutrale Beobachtungsmission, auch Aserbaidschan solle von mehr Sicherheit profitieren.
Baerbock lässt sich am Samstag die Gefahrenlage in der Grenzregion erklären. Ein EUMA-Sprecher zeigt auf die Hausfassade eines armenisch-amerikanischen Stahlwerkes, das menschenleer ist und das aufgrund dessen eher wie eine Ruine wirkt. Das Gebäude sei im Juni von Scharfschützen beschossen worden. Dabei seien mehrere indische Arbeiter verletzt worden. An einem anderen Abschnitt der Grenze seien außerdem erst im September drei armenische Soldaten durch aserbaidschanischen Beschuss ums Leben gekommen. Es eskaliert also immer wieder – vor allem immer dort, wo die EUMA gerade nicht patrouilliert, bestätigt EUMA-Sprecherin Ema Strastna gegenüber t-online.
Angst vor ethnischen Säuberungen
Danach wird die deutsche Delegation zu einem erhöhten Punkt gefahren. Mit einem Fernglas blickt Baerbock auf die Stellungen der armenischen und der aserbaidschanischen Armee, die vor allem die Hügelspitzen besetzt halten. Die Leidtragenden dieses Konfliktes sind vor allem die Zivilisten, die in der Region leben. Ein EUMA-Sprecher berichtet von einer Schule, dessen oberste Etage ohne Fenster gebaut werden musste, damit bei Beschuss Fenster nicht bersten und die Kinder verletzten können. Ein sporadisches Fußballfeld wurde verlegt, damit spielende Kinder vor möglichen Beschuss geschützt sind.
Die Eskalation des Konfliktes um Berg Karabach hat die Lage im Südkaukasus noch zusätzlich verschärft. In den vergangenen Monaten hatte Aserbaidschan die Republik Bergkarabach angegriffen. Völkerrechtlich gehört die Region zu Aserbaidschan, doch dort hatten überwiegend Armenier gelebt. Aus Angst vor ethnischen Säuberungen sind viele der Bewohner nach Armenien geflohen – es sollen mittlerweile mehr als 100.000 Vertriebene sein.
Baerbock trifft auch am Samstag auf Familien, die nach dem aserbaidschanischen Angriff auf Bergkarabach im September geflohen sind. Die aserbaidschanische Führung betont zwar immer wieder, dass die Armenier dort ihre Heimat nicht verlassen müssen, aber Präsidenten Ilham Alijew sendet auch gegenteilige Signale. So kniete nach dem militärischen Sieg seiner Armee in Militäruniform vor einer aserbaidschanischen Flagge, küsste sie, stieg dann mit Springerstiefeln auf die Fahne der Republik Bergkarabach, die es ab 1. Januar 2024 auch offiziell nicht mehr geben wird.
"Hoffnung habe ich keine"
Der Missmut der Geflüchteten ist groß. "Viele unserer Bekannten sind aus Angst geflohen und auch wir haben unseren Besitz und unser Haus zurückgelassen", sagt die 27-jährige Nina Petrosian gegenüber t-online. Sie ist zusammen mit ihren drei Kindern und ihrem Mann in einer Unterkunft in der armenischen Gemeinde Artaschat untergekommen. Viel Besitz konnte die Familie nicht retten. Zwar würden sie zurückkehren wollen, "aber Hoffnung darauf habe ich keine", meint sie. "Über Aserbaidschan möchte ich nicht sprechen, den Namen möchte ich nicht aussprechen. Sie haben so viel Leid über uns gebracht."
Das Misstrauen gegenüber Aserbaidschan ist groß. So groß, dass ein Friedensprozess in weiter Ferne scheint. "Wie sollen wir mit ihnen Frieden schließen?", fragt die 31-jährige Angelika Stepanyan, die auch mit ihrem Mann aus Bergkarabach nach Armenien geflohen ist. Immerhin fühle man sich nun sicher. Aber sie hätten sich mehr Unterstützung erhofft, von der armenischen Regierung und auch von westlichen Partnern wie Deutschland. "Wir sind aber sehr dankbar für die deutsche Hilfe", sagt wiederum Patrosium.
Die Gespräche in der Region machen klar: Die Geflüchteten aus Bergkarabach sind traumatisiert, der Hass auf Aerbaidschan sitzt tief. Baerbock hat bei ihrem Armenien-Besuch zwar weitere finanzielle Hilfen und Geschenke für Kinder im Gepäck. Aber dort stößt die deutsche Hilfe an Grenzen.
Die nächste Station auf der Reise der Außenministerin ist am Samstag die aserbaidschanische Hauptstadt Baku. Es geht der Bundesregierung darum, eine Eskalation des Konfliktes zu verhindern, darum, beide Seiten an den Verhandlungstisch zu bekommen. Das liegt auch in deutschem Interesse: Deutschland möchte mehr Rohstoffe von Aserbaidschan kaufen. Das Land solle die Europäische Union mit einem 1.200 Kilometer langen Kabel durch das Schwarze Meer mit Strom beliefern. Ein Mammutprojekt.
Erdoğan bleibt Gefahr
Deswegen sieht sich Deutschland als Vermittler. Man will nicht zu viel Druck aufbauen, um eigene Interessen nicht zu gefährden und um nicht Alijew eine Ausrede zu schenken, um nicht verhandeln zu wollen. Denn es ist völlig unklar, ob Aserbaidschan diese Verhandlungen überhaupt möchte.
Vor dem Angriff auf Bergkarabach hatte die aserbaidschanische Führung dem Westen beschwichtigt, dass man keinen Angriff plane. Das war eine Lüge. Nicht umsonst spricht Baerbock am Samstagabend (Ortszeit) in Baku bei einem Treffen mit ihrem aserbaidschanischen Amtskollegen Jeyhun Bayramov davon, Vertrauen wieder aufzubauen. Nicht nur zwischen den beiden Konfliktparteien, sondern auch zwischen Aserbaidschan und dem Westen. Die Außenministerin macht klar: "Frieden ist auch im Interesse Aserbaidschans."
"Wir sind bereit zum Dialog", bekräftigte der aserbaidschanische Außenminister. Aber ist das glaubhaft? Fest steht: Auf der Pressekonferenz eskaliert plötzlich die Lage und die Uneinigkeit zwischen Deutschland und Aserbaidschan in der Bergkarabach-Frage wird sichtbar. Baerbock hatte zuvor in ihrem Statement Städtenamen in Bergkarabach auch im lokalen armenischen Dialekt vorgelesen, für die aserbaidschanische Führung ist das offenbar ein rotes Tuch. "Diese Ortsnamen existieren nicht. Deswegen würde ich Sie bitten, die aserbaidschanische Souveränität zu achten", kritisiert Bayramov. Die deutsche Außenministerin widerspricht, sie habe die "offiziellen Namen" genutzt.
Bayramov wirft Baerbock außerdem vor, keine Geflüchteten getroffen zu haben, die aus Armenien nach Aserbaidschan geflohen sind. Das hatte die Grünen-Politikerin allerdings getan, wie sie Bayramov erinnert. "Das wurde wohl nicht übersetzt", meint sie.
Baerbock macht in Baku indirekt klar: Deutschland sieht Armenien als Wertepartner, Aserbaidschan nicht.
Fest steht: Die Bedrohungslage für Armenien wird dadurch befeuert, dass das militärische Ungleichgewicht zwischen den beiden Konfliktparteien immer größer wird. Aserbaidschan wird von der Türkei unterstützt, bekommt von Erdoğan modernes militärisches Gerät und Ausbildung nach Nato-Standards. Es ist also möglich, dass Alijew eine Landverbindung zur aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan herstellen will – und dafür weiter auf Krieg setzt.
Fest steht auch: Die Lügen der Vergangenheit lassen auch die aserbaidschanischen Bekundungen für Frieden am Samstag beim Besuch von Baerbock nicht in einem vertrauenswürdigen Licht erscheinen. Im Gegenteil: Der Frieden in der Region wird wahrscheinlich von einer Frage abhängig, die für die Bundesregierung und den Westen momentan nur schwer einzuschätzen ist: Welche strategischen Ziele hat der türkische Präsidenten Erdoğan?
Denn auf Baerbocks Reise in den Südkaukasus wurde auch immer wieder klar, dass sich Russland als Ordnungsmacht aus der Region zurückzieht und die Rolle der Türkei immer dominierender wird. Das ist für Armenien eine gefährliche Lage, denn auch Erdoğan träumt von einer Einheit der Turkvölker. Für diesen Traum scheint ihm Armenien eher im Weg zu sein. Die türkische Politik in der Region bleibt demnach ein Unsicherheitsfaktor für die territoriale Integrität Armeniens. Erdoğan steht sinnbildlich für einen Vulkan, der momentan ruht – der aber weiterhin bedrohlich für das kleine Land bleibt.
- Gespräche mit Geflüchteten aus Bergkarabach in Armenien (mit Dolmetscher)
- Begleitung von Außenministerin Baerbock im Kaukasus