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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Erdoğan hetzt gegen den Westen Es brodelt gewaltig
Recep Tayyip Erdoğan stellt sich im Israel-Krieg hinter die Terrororganisation Hamas. Der türkische Präsident steckt in einem großen Dilemma – und hat sich für einen erneuten Konflikt mit dem Westen entschieden.
Die Türkei hat Grund zum Feiern. Am Sonntag wurde die türkische Republik 100 Jahre alt. Überall im ganzen Land waren Tausende Menschen auf den Straßen, schwenkten die rote Nationalflagge und Fahnen mit dem Konterfei des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk. In Istanbul gab es eine Militärparade mit Kriegsschiffen und Kampfflugzeugen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan feierte in Ankara und legte unter anderem einen Blumenkranz am Mausoleum Atatürks nieder.
Für den 69-Jährigen ist es ein enormer politischer Spagat. Atatürk wird in der türkischen Gesellschaft als Staatsvater verehrt, er ist das Fundament des türkischen Nationalpatriotismus. Doch Atatürk stand auch für eine streng laizistische Türkei, in der die Religion aus dem öffentlichen Leben verbannt wurde. Erst Erdoğan brach mit dieser Staatsräson. Erst seit seiner Regentschaft wurde der muslimische Glaube zu einem dominierenden Faktor in der türkischen Politik und Gesellschaft.
Das zeigt sich auch zunehmend in der türkischen Außenpolitik. Erdoğan hatte schon in Syrien und Ägypten keine Berührungsängste gegenüber islamistischen Extremisten und stellt sich nach dem Terrorangriff der Hamas gegen Israel nun auf die Seite der Terroristen. Mittlerweile wird der türkische Präsident getrieben von den Kräften, denen er seine Macht verdankt. Das hat für die Türkei fatale Folgen.
Attacke gegen den Westen
Die Bombe platze am Samstag. Erdoğan hatte bei einer Kundgebung seiner konservativ-islamischen Partei AKP in Istanbul Israel "Kriegsverbrechen" vorgeworfen. In der radikalislamischen Palästinenserorganisation Hamas hingegen sehe er keine Terrororganisation, sondern eine "Gruppe von Befreiern", die ihr Land verteidige, hatte er vor diesem Auftritt erklärt.
Wer den türkischen Präsidenten schon etwas länger verfolgt, dem ist klar: Diese Wutrede war kein Zufall, jedes Symbol ist bis ins Detail inszeniert. Erdoğan trägt bei seinem Auftritt ein Tuch um den Hals, auf dem die türkische und die palästinensische Fahne zu sehen ist. Auf der Bühne wird er von Tausenden Menschen gefeiert.
Die Botschaft der türkischen Führung: Die Türkei steht zu seinen muslimischen Glaubensbrüdern und -schwestern. Das "Massaker" im Gazastreifen sei laut Erdoğan das Werk des Westens und es sei der westliche Imperialismus, der nicht nur die Region ins Chaos stürze, sondern auch die Türkei kleinhalte und für die türkische Wirtschaftskrise verantwortlich sei. Nur Erdoğan – so das Narrativ – könne Muslime und die Türkei dagegen verteidigen. "Wir werden erfolgreich und siegreich bleiben. Keine imperialistische Macht kann dies verhindern", sagte er in einer weiteren Rede am Sonntagabend in Ankara. Israel sei nur eine "Schachfigur" des Westens.
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Aber bereits vor seinen Auftritten am Wochenende hatte der türkische Staatschef Israel angesichts der verstärkten Angriffe im Gazastreifen aufgefordert, "den Wahnsinn" unverzüglich zu stoppen. "Die Bombardierungen in der vergangenen Nacht haben sich erneut gegen Frauen, Kinder und unschuldige Zivilisten gerichtet und die humanitäre Krise verschärft", erklärte Erdoğan am Samstag auf X. Einen geplanten Besuch in Israel sagte er ab. Zudem warf er den westlichen Ländern vor, sie seien "unfähig, Israel zu stoppen".
In den vergangenen Wochen erwähnte der türkische Staatschef nicht mehr, dass die im Gazastreifen herrschende Hamas am 7. Oktober einen Großangriff auf Israel gestartet, dabei nach israelischen Angaben etwa 1.400 Menschen getötet und 229 Menschen als Geiseln verschleppt hatte.
Erdoğan befeuert alte Feindbilder
Nun gibt sich Erdoğan als starker Protektor der muslimischen Sache. Der Westen, mit dem die Türkei in der Nato eng zusammenarbeitet, ist jetzt wieder der Feind. "Will der Westen wieder einen Kampf zwischen Halbmond und Kreuz?", fragte er in seiner Rede am Samstag. "Wenn Sie eine solche Anstrengung unternehmen, seien Sie sich darüber im Klaren, dass diese Nation nicht tot ist."
Dabei geht es dem türkischen Staatschef nicht nur um die Türkei, sondern er sieht sein Land als Erben des Osmanischen Reiches. "Manche Leute mögen Gaza als einen fernen Ort betrachten, der mit uns nichts zu tun hat", sagte er am Samstag. "Aber vor hundert Jahren war für diese Nation Gaza nicht anders als Adana." Damit spielte der Präsident darauf an, dass auch Gaza zum Osmanischen Reich gehörte.
Für Erdoğan kommt dieser Konflikt dennoch zur Unzeit. Nachdem sich die Beziehungen zwischen der Türkei und dem Westen und auch mit Israel in den vergangenen Monaten entspannt haben, nährt er nun wieder das Feindbild des westlichen Imperialismus.
Doch eigentlich war das nicht geplant. Zur Stärkung der türkischen Wirtschaft verbesserte Erdoğan die Beziehungen zu Griechenland, wollte einen Energiedeal mit Israel und hoffte auf Kampfflugzeuge aus den USA. Der Angriff der Hamas auf Israel machte all das zunichte.
Die aktuelle Eskalation zeigt die gegenwärtige Schwäche Erdoğans. Als erste Reaktion auf den Terrorangriff bot er sich als Vermittler an, vermeintlich in der Hoffnung, sich der Sogkraft des Konfliktes doch noch entziehen zu können. Ohne Erfolg.
Verheerende Folgen für die Türkei
Es war seine Kernwählerschaft, die seit Beginn des Krieges in Israel für die palästinensische Sache auf die Straße ging. "Mörder Deutschland, Mörder Israel, Mörder Europa", skandierten Demonstranten am Wochenende vor dem deutschen Generalkonsulat in Istanbul. Bei vielen Wahlen war es der angebliche muslimische Freiheitskampf, an dessen Speerspitze er sich stellte, was ihm mehrfach seine Macht sicherte. Erdoğan beschwor stets einen religiösen Konflikt – und von diesen Geistern wird er nun eingeholt.
Nach der vergangenen Parlamentswahl im Frühjahr 2023 ist er auf Koalitionspartner angewiesen, die deutlich fundamentalistischer und nationalistischer sind als seine AKP. Sie erhöhten den Druck auf den Präsidenten und ein halbes Jahr vor den wichtigen Kommunalwahlen in der Türkei wackelt das Machtfundament von Erdoğan bedrohlich. Selbst sein Sohn und sein Schwiegersohn gingen zu pro-palästinensischen Protesten in Istanbul. Der Präsident reagierte wie so oft in der Vergangenheit und legt sich mit dem Westen an, um von eigenen politischen Unsicherheiten abzulenken.
Erdoğan konnte den innenpolitischen Druck nicht mehr ignorieren und entschied offenbar, sich an die Spitze der Bewegung stellen zu wollen. Damit konnte der Präsident gleichzeitig den inneren Frieden in der Türkei wahren, denn in der türkischen Gesellschaft gibt es in Teilen eine tief verwurzelte Israel-Feindlichkeit. Außerdem kann er sich damit als muslimische Führungsmacht inszenieren. Trotzdem ist das gegenwärtige Auftreten des türkischen Präsidenten für sein Land außenpolitisch verheerend.
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Der israelische Außenminister Eli Cohen sprach von "schwerwiegenden Aussagen". Auf der Plattform X teilte er mit, er habe die diplomatischen Vertreter aus der Türkei zurückbeordert, "um eine Neubewertung der Beziehungen zwischen Israel und der Türkei vorzunehmen". Israel und die Türkei stehen also vor einer neuen diplomatischen Eiszeit und auch im Westen wird nun der Druck auf die politischen Führungen steigen, dass es für Erdoğan politische Konsequenzen gibt.
Schon jetzt scheint klar: Der Konflikt wird der türkischen Wirtschaft schaden und die politischen Annäherungen der vergangenen Monate liegen komplett in Trümmern. Es profitieren Kräfte wie die iranische Führung oder die Hamas, die aus der Spaltung zwischen muslimischer und westlicher Welt ihre Existenzberechtigung ziehen. Erdoğan gehört nicht zu den Gewinnern, denn er wird zum Opfer seiner eigenen Politik der vergangenen 20 Jahre.
- tagesspiegel.de: USA und Europa laut Erdogan schuld an "Kriegsverbrechen" in Gaza
- tagesschau.de: Israel beruft Diplomaten aus Türkei ab
- zdf.de: Erdogan nennt Israel "Kriegsverbrecher"
- zeit.de: Warum Erdoğan die Hamas verteidigt
- spiegel.de: Deshalb unterstützt Erdoğan die Hamas
- faz.net: Zerstörte Annäherung
- welt.de: Westen ist der "Hauptschuldige" an "Massakern im Gaza-Streifen", sagt Erdogan
- tagesspiegel.de: Erdogan vergleicht Kampf gegen die Hamas mit Kreuzzügen
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa