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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Möglicher Anschlag auf Prigoschin Ist Putin jetzt gestärkt? Das sagen Experten
Jewgeni Prigoschin hat sich spätestens seit seinem Putschversuch zu einem Problem für den Kreml entwickelt. Könnte der mutmaßliche Tod des Wagner-Chefs Wladimir Putin stärken?
Es war der spätere Abend, als Wladimir Putin am gestrigen Mittwoch wieder in Moskau eintraf. Aufnahmen der staatlichen Nachrichtenagentur Ria Nowosti zeigten, wie eine Eskorte von schwarzen Autos mit Blaulicht über die Straßen der russischen Hauptstadt rasten.
Stunden zuvor hatte der russische Präsident sich noch in dem kleinen Dort Ponyri rund 500 Kilometer südlich von Moskau aufgehalten: Dort nahm Putin an Feierlichkeiten zum 80. Jahrestag der siegreichen Schlacht von Kursk teil. Die Feier nutzte der Präsident auch, um Soldaten auszuzeichnen, die für Russland in der Ukraine gekämpft hatten.
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Es klingt nach Business as usual für einen Präsidenten, der einen Krieg mit einem Nachbarstaat angezettelt hat. Zum mutmaßlichen Tod des Wagner-Chefs Jewgeni Prigoschin äußerte sich Putin am Donnerstagabend. In einer Videobotschaft bestätigte er indirekt den Tod des Söldnerchefs und kondolierte dessen Familie. Prigoschin sei "ein talentierter Geschäftsmann" mit "schwierigem Schicksal" gewesen, so Putin. Mehr über den Absturz lesen Sie hier.
"Liquidiert Widersacher und Kritiker"
Noch sind viele Umstände des Flugzeugabsturzes unklar. Viele Beobachter sind sich allerdings einig, dass der Tod Prigoschins keine Überraschung wäre – und dass Putin durchaus ein Interesse daran haben könnte. Doch was bedeutet der mögliche Tod von Prigoschin für Putin, der noch vor zwei Monaten so offensiv herausgefordert wurde wie wohl noch nie zuvor? t-online hat dazu drei Experten befragt, die sich schon jahrelang mit Russland und den Machtstrukturen Putins befassen.
Für den Politikwissenschaftler Andreas Heinemann-Grüder von der Universität Bonn hat Putin seine Macht vorerst gefestigt: "Putin geht aus diesem Konflikt gestärkt hervor: Er hat bewiesen, dass er mit einem Herausforderer keine Kompromisse eingeht", sagte Heinemann-Grüder t-online. Der Experte spricht von einem "alten Muster", das der Fall Prigoschin möglicherweise wieder offenbart hat: "Er liquidiert Widersacher und Kritiker."
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Heinemann-Grüder glaubt, dass die Causa Prigoschin möglicherweise zu einem grundsätzlichen Umdenken bei Putin führen könnte: "Putin hatte bisher wie Stalin mit künstlichen Konkurrenzen gearbeitet. Dieses Modell ist wohl am Ende." Prigoschin und seine Wagner-Armee waren mit anderen Söldnertruppen etwa ein Gegengewicht zum russischen Militär. Damit sollte verhindert werden, dass die eigenen Streitkräfte zu mächtig werden und sich gegen Putin auflehnen könnten. Möglicherweise habe Prigoschin und sein Putschversuch bewiesen, dass dieses Modell in der Zukunft nicht mehr funktioniert.
"Kann jedes Kriegsergebnis verkaufen"
Eine andere Person, die den Unmut vieler Leute gegenüber Putin ähnlich gut wie Prigoschin symbolisieren kann, sieht Heinemann-Grüder momentan nicht: "Einen natürlichen Nachfolger von Prigoschin gibt es nicht." Das liege auch daran, dass der Wagner-Chef mit seiner Privatarmee Ressourcen besaß, die viele andere Kritiker Putins nicht haben. Aktuell gebe es niemand, der Söldner, Waffen, eine große Menge Geld oder eine Trollfabrik in Russland sein Eigen nennen kann. Putin werde in Zukunft wohl noch stärker versuchen, dass niemand mehr neben ihm eine ähnliche Machtposition erlangt.
Der Politikwissenschaftler betont allerdings, dass die Probleme des russischen Präsidenten jetzt nicht automatisch gelöst seien: Der Verlauf des Krieges in der Ukraine sei weiter entscheidend. Das konkrete Ende der Kämpfe sei allerdings nicht das größte Problem des Kremls: "Putin kann jedes Kriegsergebnis verkaufen. Aber er hat keine Strategie, wie er aus diesem Krieg wieder herauskommt."
"War ein Ziehsohn von Putin"
Der Osteuropa-Experte Andreas Umland vom Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien wäre nicht überrascht, wenn der Kreml tatsächlich ein Attentat auf Prigoschin durchgeführt hat: "Das passt in das Muster der russischen Geheimdienste", sagte Umland t-online. Aus seiner Sicht war ein solcher Vorfall nur eine Frage der Zeit: "Auf diese Bestrafung hat man zwei Monate gewartet."
Grundsätzlich sieht Umland Putin allerdings durch einen Tod Prigoschins nicht gestärkt: "Kurzfristig kann Putin sein System festigen. Aber langfristig bleibt diese Angelegenheit für Putin sehr peinlich." Aus Umlands Sicht habe der Wagner-Chef Putin seine gesamte Karriere zu verdanken: "Prigoschin war ein Ziehsohn von Putin." Dass er dann gegen ihn geputscht habe, sei ein schwerer Schlag gewesen.
Was bedeutet der Flugzeugabsturz jetzt für die verbliebene Gruppe Wagner? Umland glaubt nicht, dass die Gruppe aktuell eine große Bedrohung für den Kreml darstelle. Der Politikwissenschaftler hält stattdessen eine Zerschlagung für denkbar: "Die Wagner-Gruppe wird jetzt absorbiert werden." Teile der Gruppe könnten etwa im russischen Militär aufgehen oder unter einem neuen Namen agieren. Auch könnten sich die Soldaten anderen Privatarmeen anschließen. Umland nennt als Alternative etwa die Gruppe Redut, die ebenfalls in der Ukraine aktiv sein soll.
Größere Säuberungsaktion
Der Politikwissenschaftler sieht ein mögliches Attentat auf Prigoschin als Teil einer größeren Säuberungsaktion des Kremls: Dazu gehöre etwa auch die Verhaftung des ultranationalistischen Putinkritikers Igor Girkin, der seit rund einem Monat in Untersuchungshaft sitzt. Auch die kürzliche Entmachtung des ranghohen Generals Sergej Surowikin sei eine Maßnahme gewesen, um einen weiteren Kritiker auszuschalten. Der Militär, der zuletzt für die Luft- und Raumfahrttruppen zuständig war, galt als Verbündeter von Prigoschin.
All diese Personalien eint laut Umland, dass sie einen radikaleren, härteren Kurs von Putin in der Ukraine gefordert hatten: "Putin nimmt eine Säuberung seiner Kritiker von rechts vor." Die Probleme des Kremlchefs seien dadurch allerdings nicht gelöst: "Putins Herrschaft hängt an diesem Krieg. Weitere Niederlagen werden auch innenpolitische Konsequenzen nach sich ziehen." Unklar sei nur, welche das sein werden.
"Verräter werden bestraft"
Alexander Libman vom Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin glaubt nicht, dass Putin seine Position aktuell gestärkt hat: "Der Fall Prigoschin hat Putin grundsätzlich geschwächt", sagte Libman im Gespräch mit t-online. Es sei für Putin wichtig gewesen, ein Zeichen an seine Kritiker zu senden: "Putin verzeiht Verrätern nicht – und Verräter werden bestraft." Das bedeute allerdings nicht, dass sie dadurch verstummen werden.
Aktuell sei es noch zu früh, um zu sagen, ob Putin die Zweifel an seiner Macht grundsätzlich wieder ausräumen wird: "Kann Putin jetzt den Schaden revidieren, den Prigoschin für ihn angerichtet hat? Das können wir heute noch nicht wissen." Grundsätzlich ist aus Libmans Sicht in den russischen Eliten die Haltung verbreitet, dass der Krieg in der Ukraine eine sinnlose Handlung sei. Allerdings bedeute das nicht, dass viele sich ein schnelles Ende des Krieges wünschen: Viele würden hoffen, dass Russland noch härter gegen die Ukraine vorgeht. Deshalb könne es auch durchaus sein, "dass Elitegruppen auf Prigoschin gesetzt haben."
Der mutmaßliche Tod des Wagner-Führers könnte daher dazu führen, dass Kremlkritiker jetzt anders auftreten werden: "Die Causa Prigoschin hat die Eliten daran erinnert, dass sie deutlich vorsichtiger sein müssen." Sollte es zu einem erneuten Putschversuch kommen, würde dieser wohl viel weniger öffentlich ausgetragen werden. Wer den nächsten Umsturz anführt, könne er allerdings nicht abschätzen: "Einen weiteren Putsch in Russland vorherzusagen ist unmöglich. Wenn ich es könnte, wäre Putin gegen die entsprechenden Personen schon vorgegangen."
- Interviews mit Andreas Heinemann-Grüder, Andreas Umland und Alexander Libman
- kremlin.ru: "Празднование 80-летия победы в Курской битве" (russisch)