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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Mutmaßliches Attentat Möglicher Tod von Prigoschin: "Für die Drecksarbeit erfunden"
Der Wagner-Chef hat einen steilen Aufstieg hinter sich. Mit seinem Putschversuch brachte er für einige Stunden die gesamte russische Ordnung ins Wanken. Wer ist dieser Mann?
Es ist erst wenige Tage her, dass Jewgeni Prigoschin ein Lebenszeichen von sich gegeben hat. In Militärmontur, mit Gewehr und zahlreichen Magazinen zum Nachladen steht er auf einer kargen Fläche. Im Hintergrund sind einige Soldaten zu erkennen.
"Wir arbeiten. Die Temperatur beträgt mehr als 50 Grad", sagt der Chef der Privatarmee Wagner in einem für seine Verhältnisse ruhigen Ton. Man sei gerade mit Aufklärungsarbeiten beschäftigt, erklärt Prigoschin in dem Video, das laut dem Wagner-nahen Channel "Grey Zone" in Afrika aufgenommen wurde. Unabhängig überprüfen ließ sich das nicht, auch der Aufnahmezeitpunkt blieb unklar. Man sorge, so Prigoschin, mit der Arbeit der Soldaten dafür, dass Russland auf allen Kontinenten größer werde – und Afrika noch freier.
Keine Karriere als Sportler
Wer die Aufnahme isoliert betrachtet, könnte meinen, die letzten zwei Monate seien nie geschehen. Am 23. Juni, exakt vor zwei Monaten, hatte der Wagner-Chef mit seinen Söldnern einen Aufstand gegen die Führung im Kreml angezettelt, der zu einem Marsch der Soldaten in Richtung Moskau führte – und dann am Tag darauf plötzlich zum Erliegen kam.
Dies hatte die Ordnung Russlands jedoch für einige Stunden grundsätzlich ins Wanken – und Prigoschins Leben wohl ernsthaft in Gefahr gebracht. Wer war der Mann, der nun mutmaßlich bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen ist?
Eine große Karriere war Jewgeni Wiktorowitsch Prigoschin nicht unbedingt in die Wiege gelegt, als er am 1. Juni 1961 im heutigen Sankt Petersburg geboren wurde. Sein Vater starb laut dem Wagner-Chef früh, seine Mutter arbeitete als Krankenschwester. In seiner Jugend wurde er auf eine Sportakademie geschickt – eine Karriere im Skilanglauf blieb ihm allerdings verwehrt.
Neun Jahre Haft
Anfang der Achtziger soll er stattdessen in Kontakt mit Kleinkriminellen gekommen sein. Gerichtsunterlagen, die die britische Zeitung "Guardian" und das unabhängige russische Portal "Meduza" einsehen konnten, sollen belegen, dass Prigoschin bereits mit 18 Jahren eine Frau ausgeraubt hat. Dabei soll er sie so lange gewürgt haben, bis sie das Bewusstsein verlor. Für zahlreiche weitere Delikte wurde er zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt.
1990 kam er allerdings nach neun Jahren Haft vorzeitig frei und schlug eine neue Karriere ein: Er verkaufte Hotdogs in Sankt Petersburg. Das Geschäft entwickelte sich schnell und aus dem kriminellen Räuber wurde ein Gastronom, der irgendwann ein Nobelrestaurant besaß. Unter seinen Gästen: der damalige Bürgermeister von Sankt Petersburg, Anatoli Sobtschak, und sein damaliger Berater – ein gewisser Wladimir Putin.
"Er kann sich anpassen"
Prigoschin konnte seine Karriere als Gastronom zunächst weiter ausbauen: Anfang des neuen Jahrtausends erhielt er auch Regierungsaufträge vom neuen Präsidenten Putin. Aus dieser Zeit stammt auch sein Spitzname: "Putins Koch." Doch bald schon sollte Prigoschin weitaus mehr sein: "Er kann sich anpassen, um es jeder Person recht zu machen, wenn er etwas von ihr braucht. Das ist definitiv eines seiner Talente", sagte ein russischer Geschäftsmann dem "Guardian", der ihn noch aus seiner Zeit als Gastronom kannte.
Zwischen 2012 und 2014 sollen Prigoschin und sein Geschäftspartner Dmitri Utkin mit dem Aufbau einer Söldnergruppe begonnen haben. Auch Utkin soll sich unter den Passagieren des abgestürzten Flugzeugs befunden haben. Utkin, Ex-Militär und Verehrer des Nationalsozialismus, gab der Gruppe den Namen seines Lieblingskomponisten Richard Wagner. Der wurde einst auch von Adolf Hitler verehrt.
Die Privatarmee rekrutierte sich zunächst größtenteils aus ehemaligen Soldaten der russischen Armee: Zu ihren Einsatzgebieten zählen bis heute etwa Syrien, Libyen oder die Zentralafrikanische Republik. Die Soldaten kämpfen im Sinne des Kremls, während Putin jegliche Beteiligung von sich weisen konnte. "Wagner wurde für die Drecksarbeit erfunden", sagte kürzlich der Militärexperte Nico Lange im Gespräch mit t-online. Neben seinen militärischen Tätigkeiten unterhielt Prigoschin auch eine sogenannte Trollfabrik, mit der er das Internet mit Desinformationen auf Linie des Kremls flutete und unter anderem 2020 die US-Präsidentschaftswahl beeinflusste.
Auf dem Weg nach oben
Für Prigoschin zahlten sich die schmutzigen Geschäfte aus – sowohl finanziell als auch machtpolitisch. Eine neue Dimension erreichte seine Bedeutung 2022: Als Putin mit der Invasion der Ukraine begann, kämpften auch Prigoschins Söldner mit. Zeitweise hatte Prigoschin auch die Freigabe aus Moskau, neue Soldaten aus russischen Gefängnissen zu rekrutieren.
Doch mit Verlauf des Krieges entwickelte der Wagner-Chef immer stärker seine eigenen Wege: Seinen Zorn ließ Prigoschin dabei an dem russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow aus. Dadurch erlangte er auch Beliebtheit unter Russen, die mit dem Kriegsverlauf nicht einverstanden waren. "Schoigu, Gerassimow, wo, verdammte Scheiße, ist die Munition?", schrie der Wagner-Chef im vergangenen Mai in einem Video, während sich im Hintergrund tote Soldaten aufreihten.
"Er kann nicht umkehren"
Im Juni folgte dann Prigoschins "Marsch auf Moskau", offiziell als Kritik an der Militärführung. Viele Beobachter sahen in der Aktion allerdings den Versuch, Putin zu stürzen. Der Marsch endete schon nach wenigen Stunden. Die genauen Vereinbarungen und Abläufe aus dieser Zeit sind bis heute unklar. Offiziell hieß es danach, Prigoschin und seine Truppe sollten künftig von Belarus aus tätig sein. Prigoschin, den Putin noch am Morgen des Aufstandes als Verräter tituliert hatte, kam zunächst ohne Strafe davon.
Seitdem blieben Prigoschins Aufenthaltsort und Aktivitäten größtenteils im Verborgenen. Nach eigenen Angaben soll er sich fünf Tage nach Ende seines Putschversuches mit Putin getroffen haben. Auch der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko behauptete Anfang Juli, dass Prigoschin sich in seiner Heimatstadt St. Petersburg aufhalte.
Ein Foto Ende Juli zeigt den Wagner-Chef auf einem Afrikagipfel in der russischen Metropole. Danach wurde es ruhiger um ihn. Sich zurückzuziehen oder sein Geschäft hinter sich zu lassen, war für Prigoschin wohl nie eine Option. Das glaubt zumindest ein russischer Geschäftsmann, der ihn noch aus früheren Zeiten kennt: "Er weiß, dass ihn viele im System hassen ... also weiß er, dass es für ihn das Ende bedeuten könnte, wenn er aufhört. Er hat keine Wahl. Er kann nicht umkehren“, sagte er dem "Guardian".
- Eigene Recherche
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und Reuters
- theguardian.com: "Yevgeny Prigozhin: the hotdog seller who rose to the top of Putin's war machine" (englisch)
- spiegel.de: "Ich gehe davon aus, dass die Russen Prigoschin liquidieren werden" (kostenpflichtig)