Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Aufstand der Wagner-Söldner War der Putsch gegen Putin nur ein Fake?
Die Wagner-Söldner revoltierten offen gegen Wladimir Putin und rückten ohne viel Gegenwehr in Richtung Moskau vor. Ist der russische Präsident so schwach, dass Teile seiner Armee meutern – oder steckt etwas anderes dahinter?
So plötzlich wie sie kamen, waren sie wieder weg. Die Wagner-Gruppe von Jewgeni Prigoschin stellte sich am Wochenende gegen Kremlchef Wladimir Putin und die russische Armee. Die Söldner besetzten die Millionenstadt Rostow am Don und standen wenig später anscheinend schon 200 Kilometer vor Moskau. Ein Bürgerkrieg lag in der Luft.
Dann am Samstagabend die Kehrtwende: Nach einer Einigung zwischen Prigoschin und dem Kreml drehten die Wagner-Truppen um. Viele fragen sich nun: Was sollte also die Aktion? Welches Motiv hatte Prigoschin? Und sogar: War das Ganze womöglich eine Inszenierung?
Auch an Tag zwei nach dem Fast-Putsch sind viele dieser Fragen noch offen. Sicher scheint nur eines: Das letzte Kapitel dieser Geschichte ist noch nicht geschrieben. Der Machtkampf dürfte weitergehen. Ein Überblick über das, was wir über die Wagner-Revolte wissen und was nicht.
Was war das Motiv der Wagner-Söldner für ihre Revolte?
Genau weiß das wohl nur Prigoschin selbst. In jedem Fall hatte sich eine Eskalation des Konfliktes mit den Wagner-Söldnern angedeutet. Die Kämpfer sollten nämlich Verträge der russischen Armee unterzeichnen und sich damit dem Verteidigungsministerium unterordnen.
Das lehnte Prigoschin ab, weil er sich seit Monaten in einem intensiven Machtkampf mit Verteidigungsminister Sergei Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow befindet. Aber auch die Söldner selbst wollten diese Verträge nicht, weil sie offenbar finanziell schlechter dotiert waren als ihre Wagner-Verträge.
Doch die Aktion richtete sich nicht allein gegen das Verteidigungsministerium, wie Russland-Experte Gerhard Mangott im Gespräch mit t-online erklärt: "Es war eine bewaffnete Rebellion, die sich nicht nur gegen die Militärführung gerichtet hat, sondern auch gegen Putin selbst." Schon am Vorabend der Rebellion habe der Wagner-Chef Putin der Lüge im Ukraine-Krieg bezichtigt. "Es war aber eine abenteuerliche Aktion mit geringen Erfolgsaussichten."
Nach dieser Lesart wäre Prigoschins Motiv, dass er seiner Entmachtung und dem Bedeutungsverlust seiner Privatarmee zuvorkommt. Ob er dabei aus einem Gefühl der Stärke heraus operierte oder aus einem der Verzweiflung, ist offen.
Klar ist: Für ihn war es eine Kraftprobe mit der russischen Machtelite. Er wollte Straffreiheit für sich und gleichzeitig seine Machtposition bewahren, indem er die Freiheit seiner Privatarmee schützt und die Einbindung seiner Truppen in die reguläre Armee verhindert.
Prigoschin habe darauf gehofft, dass sich Teile der russischen Machtelite, der Armee und der Bevölkerung sich seiner Rebellion anschließen, erklärt Mangott. "Aber keiner dieser Faktoren ist eingetreten und er musste erkennen, dass die Meuterei erfolglos bleiben wird. Deswegen hat er den Rückzug befohlen und nicht, weil er Angst vor einem Blutvergießen hat."
Schlossen sich auch Teile der Armee dem Aufstand an?
Wahrscheinlich ja. Das zumindest würde erklären, warum der Vorstoß der Söldner so schnell vonstattenging und sie vor allem in Rostow am Don, einer Garnisonsstadt mit vielen Militäreinrichtungen, auf so wenig Gegenwehr stießen. Und weshalb die Wagner-Truppen wenig später offenbar 200 Kilometer vor Moskau standen – mit Kriegsgerät, das den Söldnern zuvor eigentlich nicht zur Verfügung stand: Die gesichteten S300-Flugabwehrsysteme oder auch die T90-Kampfpanzer müssten Experten zufolge aus den Beständen der russischen Armee stammen.
Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen X-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren X-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.
Für den Anschluss russischer Soldaten spricht auch, dass der Vormarsch der Söldner ohne große Kämpfe verlief, obwohl Putins Armee mit 340.000 Angehörigen weit stärker ist als die mutmaßlich rund 20.000 Kämpfer, die dem Wagner-Korps gehören sollen. Mehr dazu lesen Sie hier.
Ist Prigoschin nun sicher?
Das ist schwer zu sagen. Es war eine Überraschung, dass Putin-Vasall Lukaschenko einen Deal mit Prigoschin orchestrierte, immer hatte der russische Präsident Prigoschin zuvor in einer Fernsehansprache noch als "Hochverräter" gebrandmarkt. Zumindest wurde dem Wagner-Chef scheinbar Straffreiheit garantiert und er ist nach Belarus geflohen.
Aber das könnte auch nur ein Trick Putins gewesen sein, denn laut übereinstimmenden Berichten am Montag laufen die Ermittlungen des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB weiter. "Dann würde der Präsident wortbrüchig werden", meint Mangott. Es könne jedoch auch an einer trägen Bürokratie liegen. "Aber wenn Putin jemanden einen Verräter nennt, ist das immer gleichbedeutend mit einem Todesurteil."
Wie sehr hat die Revolte Putin geschwächt?
Ziemlich. Für Putin ist der Aufstand gleich in mehrerer Hinsicht ein Alarmsignal. In seiner Fernsehansprache kündigte er an, dass er die Verantwortlichen bestrafen wird. Das fällt nun aus – und der russische Präsident wirkt schwach. Er hatte lange zugeschaut, wie sich die Armeeführung und Prigoschin öffentlich bekriegen. Nun hatte er scheinbar die Kontrolle verloren.
Auch Russland-Experte Mangott sagt: "Es war auffällig, wie wenig Leute aus der Umgebung Putins sich zu Wort gemeldet und ihre Loyalität gegenüber dem Präsidenten bekundet haben. Leute aus dem Geheimdienst oder Innenminister Kolokolzew haben laut geschwiegen. Das wird Putin zu denken geben müssen." Das zeige, dass die Autorität des Präsidenten in den vergangenen Monaten gelitten habe. "In der russischen Elite gibt es Risse, weil es Ängste gibt, dass man diesen Krieg verlieren könnte." Auch die Bevölkerung in Rostow am Don begrüßte die Söldner freundlich, viele gaben den Kämpfern Essen und Wasser.
Die Machtposition von Putin ist angekratzt, aber was passiert nun mit Prigoschin? "Weitere Kritik an seiner Autorität kann sich Putin nicht mehr leisten", sagt Mangott. "Wenn sich Prigoschin jetzt nicht ruhig verhält, muss er um sein Leben fürchten." Seine Gegner in Russland fordern schon jetzt seinen Kopf.
"Den Koch (Anm. d. Red.: Prigoschin) aufzuhängen, wegen der Rebellion und weil sie unsere Offiziere umgebracht haben, ist einfach nötig, um Russland als Staat zu bewahren", schrieb der russische Ultranationalist Igor Girkin am Montag auf Telegram. Die Einigung vom Samstagabend hat das Problem für alle Beteiligten nicht gelöst.
Könnte die Wagner-Revolte vom Kreml inszeniert worden sein?
Diese Frage wird im Netz derzeit viel diskutiert, speziell im Westen können sich viele einen solchen "Fake-Putsch" vorstellen. Tatsächlich aber spricht derzeit wenig für ein solches Szenario.
Zwar bleibt es zunächst in der Tat ein Rätsel, warum die Wagner-Söldner mit einer solchen Leichtigkeit vorrücken konnten, ohne dass die russische Armee, die Nationalgarde oder die Luftwaffe wirklich aktiv wurden. Andererseits: Was hätte Putin von einer solchen Inszenierung?
Manche Beobachter sagen: Putin konnte den Putsch nutzen, um Russland zu einen, um seine Position zu stärken. Andere mutmaßen gar, der Abzug Prigoschins nach Belarus sei nur eine Tarnung für eine Truppenverlegung der Wagner-Söldner in das kleinere Nachbarland, damit sie die Ukraine von dort aus an einer neuen Nordflanke angreifen könnten.
Für all diese Überlegungen gibt es aktuell jedoch keinerlei Anzeichen. "Das halte ich für Unsinn", sagt Mangott. Eine Truppenverlegung hätte Russland einfach so machen können, die westlichen Geheimdienste hätten das ohnehin erkannt.
Und weiter: "Der öffentliche Schaden für Putin ist so enorm, dass es überhaupt keine Rechtfertigung dafür gibt, eine derartige Revolte zu inszenieren." Statt ein Signal der Stärke zu senden, hätten die Geschehnisse vielmehr die Schwäche Putins offenbart, die sich der Kremlchef eigentlich nicht leisten kann.
Wie geht es nun weiter?
Letztlich spricht vieles dafür, dass Prigoschin sich verspekuliert hat und dass Putin schweren Schaden genommen hat. Doch die Folgen sind noch unabsehbar. Klar ist nur: Genaue Rückschlüsse über den angeblichen Putschversuch wird es erst dann geben, wenn mehr über den Deal oder das Schicksal von Prigoschin bekannt wird. Entzieht der Kreml den Wagner-Söldnern nun ihre Finanzierung und die Unterstützung? Muss Prigoschin im Exil bleiben und wird seine Privatarmee aufgelöst? Diese Fragen sind noch offen.
Putin ist ein Herrscher, der sich für Illoyalität oft genug in der Vergangenheit gerächt hat. Das muss nicht morgen passieren, denn für den Moment braucht er Wagner – nicht nur in der Ukraine, sondern auch in vielen afrikanischen Ländern. Aber es ist unwahrscheinlich, dass der Konflikt nun beendet ist. Das Wochenende könnte das erste Kapitel einer Geschichte sein, die die zunehmende Zerrissenheit in Russland dokumentiert.
- Gespräch mit Gerhard Mangott
- n-tv.de: Medien: Ermittlungen gegen Prigoschin laufen noch
- spiegel.de: Strafverfahren gegen Wagner-Chef Prigoschin offenbar noch nicht eingestellt
- fr.de: Girkin fordert Prigoschin-Hinrichtung und will "den Koch aufhängen"
- srf.ch: Was wird jetzt aus der Wagner-Gruppe?
- Eigene Recherche