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Nordstream-Enthüllung: Seymour Hersh ist Starreporter mit zweifelhaftem Ruf


Angebliche Enthüllung
Starreporter mit zweifelhaftem Ruf


Aktualisiert am 09.02.2023Lesedauer: 4 Min.
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Seymour Hersh: „Ich überlasse es der Geschichte, meine letzten Anstrengungen zu bewerten.“ (Archivfoto) (Quelle: imago-images-bilder)

Seymour Hersh gilt als Reporterlegende. Jetzt meint er zu wissen, dass die USA die Nord-Stream-Pipelines gesprengt haben – doch Zweifel an ihm gibt es schon länger.

Er hat wieder etwas herausgefunden. Nur erscheinen seine Erkenntnisse diesmal nicht bei den großen, renommierten Verlagen und Medien: Nicht bei der US-Zeitung "New York Times", nicht beim Magazin "New Yorker" oder bei der Nachrichtenagentur Associated Press, wo der Reporter Seymour Hersh lange Jahre viele seiner Recherchen publizierte. Seine neuste Veröffentlichung findet sich auf einem Blog.

Es ist der erste Eintrag überhaupt, den der 85-jährige Amerikaner dort macht – doch wie so oft sorgen seine Ergebnisse auch jetzt für Zündstoff: In einer verdeckten Operation sollen die USA gemeinsam mit Norwegen für die Explosionen an den Ostseepipelines Nord Stream 1 und 2 verantwortlich gewesen sein. Das habe Hersh von einer nicht genannten Quelle erfahren, die direkt mit der Planung vertraut gewesen sein soll.

Mit hohen Preisen dekoriert

Tatsächlich ist bis heute unklar, wer für die Sprengung der russischen Gasröhren Ende September verantwortlich ist. Sicher sind sich viele Regierungen nur darin, dass es sich bei den Explosionen um einen Sabotageakt gehandelt habe – und dass dieser wohl nur von staatlichen Akteuren und nicht etwa von Terrorgruppen habe durchgeführt werden können. Viele Untersuchungen verliefen aber bisher im Sand.

Umso mehr lassen Hershs Name und Renommee bei dem Thema aufhorchen: Auch der Kreml, der häufig als Urheber der Explosionen verdächtigt wurde, griff den Bericht von Hersh auf: "Es wäre unfair, ihm keine Aufmerksamkeit zu schenken", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Donnerstag.

Die Enthüllungen von Hersh prägten in den vergangenen Jahrzehnten häufig die Deutung von weltbewegenden Ereignissen. Doch das ist nur ein Blickwinkel auf die Arbeit des Reporters: Gerade in der jüngeren Vergangenheit lieferte Hersh häufiger Recherchen ab, die zu zweifelhaften Ergebnissen kamen und sich später als nicht ganz richtig herausstellten. So sagte jüngst etwa der frühere Leiter des CIA-Büros in Moskau, John Sipher, im Gespräch mit t-online: "Der Seymour Hersh der 1960er- und 1970er-Jahre ist längst Geschichte. In den vergangenen Jahren beschäftigt er sich zunehmend mit Verschwörungen und Unsinn." Weitere Aussagen von Sipher lesen Sie hier. Wie glaubwürdig also ist Hersh heute noch?

Durchbruch mit Vietnam-Recherchen

Wer sich mit der Vita des 85-jährigen Reporters beschäftigt, entdeckt eine Biografie voller Sensationsenthüllungen und zahlreicher Reporterpreise: Sein Durchbruch gelang Hersh Ende der Sechzigerjahre, als er ein Kriegsverbrechen des US-Militärs im Vietnamkrieg aufdeckte:

Die Soldaten hatten 1968 mehr als 500 Zivilisten in dem Ort Mỹ Lai umgebracht. Hersh gewann dafür 1970 den renommierten Pulitzer-Preis, eine Auszeichnung, die für Journalisten vergleichbar mit einem Oscar ist.

In den Folgejahren lieferte Hersh immer wieder brisante Berichte und heimste dafür weitere Preise ein: Fünfmal wurde er auch mit dem ebenfalls unter US-Journalisten renommierten George Polk Award ausgezeichnet. Letztmals erhielt er diesen 2004. Damals hatte Hersh aufgedeckt, dass es infolge des Irakkriegs zu Misshandlungen von Gefangenen durch US-Soldaten in dem Gefängnis Abu Ghuraib kam. Auch diese Story sorgte weltweit für Aufsehen.

Zweifel an Syrien-Recherchen

Das ist die eine Seite der Karriere von Seymour Hersh. Doch es gibt auch eine andere: Denn die vergangenen Jahre waren immer häufiger geprägt von großen Zweifeln an den Recherchen des bekannten Journalisten. In einem Artikel von 2017 berichtete Hersh etwa über einen Luftangriff von US-Streitkräften in Syrien.

Der Angriff war eine Reaktion auf einen Giftgasanschlag auf die Zivilbevölkerung des Ortes Chan Scheichun. Laut Hershs Recherchen, die in der Zeitung "Welt" erschienen, soll es jedoch nie zu einem solchen Giftgasangriff gekommen sein. Stattdessen habe das syrische Regime mit der Unterstützung Russlands ein Treffen von Dschihadisten in dem Ort bombardiert. Durch den Abwurf einer Bombe soll angeblich eine Giftwolke entstanden sein, weil Düngemittel, Desinfektionsmittel und andere Stoffe im Keller des anvisierten Hauses gelagert worden seien.

"Winzige Anzahl anonymer Quellen"

Hershs Recherchen wurden später von mehreren Seiten entkräftet: Eine Untersuchung der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) und des Joint Investigative Mechanism (JIM) kam etwa zu dem Ergebnis, dass an dem Ort eine Giftgasbombe mit dem Kampfstoff Sarin durch Streitkräfte des syrischen Machthabers Baschar al-Assad abgeworfen worden war.

"Hersh stützte sich auf eine winzige Anzahl anonymer Quellen, legte keine anderen Beweise vor, um seinen Fall zu untermauern, und ignorierte oder verwarf Beweise, die der alternativen Erzählung, die er aufzubauen versuchte, entgegenstanden", kritisierte etwa der bekannte Journalist Eliot Higgins auf der Rechercheplattform Bellingcat die Veröffentlichungen von Hersh im Zusammenhang mit dem Syrien-Krieg.

Eine Quelle für Nord-Stream-Recherche?

Es ist ein Vorwurf, der auch jetzt wieder bei seiner Arbeit zu den Nord-Stream-Pipelines laut wird: Aus seinem Text geht hervor, dass Hersh sich offenbar nur auf eine anonyme Quelle bezogen hat. Selbst Kremlsprecher Dmitri Peskow sprach am Donnerstag die eher dünne Quellenlage an.

Grundsätzlich sind anonyme Quellen bei besonders heiklen Themen zwar nicht ungewöhnlich. Für seine preisgekrönten Vietnam-Recherchen hatte Hersh vor mehr als 50 Jahren auch schon Tippgeber genutzt, deren Namen nur er kannte: Allerdings sprach er damals nach eigenen Angaben mit mehreren Personen – und einer der verantwortlichen Kommandanten ließ sich mit vollem Namen zitieren.

Von der Kritik zeigte sich Hersh in den vergangenen Jahren unbeeindruckt. Er sei daran gewöhnt, immer wieder derjenige zu sein, der über Dinge schreibe, die den offiziellen Versionen widersprechen. "Ich überlasse es der Geschichte, meine letzten Anstrengungen zu bewerten", schrieb der Journalist schon in seiner 2018 erschienenen Biografie.

Verwendete Quellen
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