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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Verliert Russland 300 Milliarden Dollar? "Wladimir Putin kann gerne protestieren"
Der Westen fürchtet Wladimir Putins Ende im Kreml. Denn dann könnte das Chaos folgen. Aber stimmt das auch? Experte Ralf Fücks ist skeptisch.
Die ukrainische Armee hat dem russischen Angriff widerstanden, vorbei ist der Krieg aber noch lange nicht. Wie soll der Westen mit dem Aggressor Wladimir Putin umgehen? Und vor allem seinen atomaren Drohgebärden? Die richtige Antwort haben die USA bereits gegeben, sagt Osteuropaexperte Ralf Fücks. Warum der Westen der Ukraine nun umso mehr helfen muss, wie Putin für seine Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden könnte und auf welchem Wege Russland eine bessere Zukunft erwartet, erklärt Fücks im Gespräch.
t-online: Herr Fücks, der russische Krieg gegen die Ukraine wütet weiter, nun ist der Winter nicht mehr fern. Wie beurteilen Sie die Lage?
Ralf Fücks: Die Situation ist trotz aller Erfolge der ukrainischen Armee kritisch. Wir müssen alles tun, dass die Ukraine über den Winter kommt – und deshalb müssen die russischen Angriffe auf die Infrastruktur des Landes gestoppt werden. Rund 40 Prozent der ukrainischen Energieversorgung sind bislang zerstört worden. So kann es nicht weitergehen. Wir müssen die ukrainische Abwehr gegen Raketen- und Drohnenangriffe stärken, zugleich kann der Wiederaufbau nicht warten, bis der Krieg beendet ist – wann das auch immer sein wird.
Die Kosten werden angesichts der von der russischen Armee verursachten Zerstörungen gewaltig sein. Bundeskanzler Olaf Scholz und die EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen wollen der Ukraine zukünftig durch einen neuen "Marshallplan" helfen.
Das klingt gut, ist aber nur ein Wolkenkuckucksheim, wenn wir der Ukraine nicht hier und jetzt helfen, den Winter zu überstehen. Wenn die Energieversorgung zusammenbricht, wird es Millionen neuer Flüchtlinge geben, dann geht auch die Ökonomie in die Knie. Die Ukraine braucht Waffen, Geld und technische Unterstützung, und sie braucht das schnell. Und es gibt einen Weg, dem Land die nötigen Finanzmittel zu verschaffen.
Sie spielen auf die vom Westen "eingefrorenen" Vermögenswerte etwa der russischen Zentralbank an? Der Kreml dürfte allerdings heftigen Protest erheben.
Wladimir Putin kann gerne protestieren, das Völkerrecht ist aber aufseiten der Ukraine. Russland hat das Verbot des Angriffskriegs gebrochen. Verbunden mit den massiven russischen Kriegsverbrechen und den materiellen Zerstörungen in der Ukraine ergibt das eine rechtliche Grundlage, die im Westen deponierten Finanzmittel der russischen Staatsbank als Schadensersatz und Wiederaufbauhilfe für die Ukraine umzuwidmen. Das sind bis zu 300 Milliarden Dollar. Die Verursacher müssen zur Kasse gebeten werden – auch zur Abschreckung künftiger Angriffe.
Ralf Fücks, Jahrgang 1951, ist Gründer des Thinktanks Zentrum Liberale Moderne in Berlin. Zuvor war er unter anderem Senator in Bremen und 21 Jahre lang Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, die der Partei Bündnis 90/Die Grünen nahesteht. Fücks ist Autor mehrerer Bücher und auf Twitter unter @fuecks aktiv.
Bleiben wir zunächst beim Völkerrecht: Russland hat mit seiner Attacke die europäische Friedensordnung erschüttert. Auf welche Weise könnte diese wiederhergestellt werden?
Russland begeht zahlreiche Kriegsverbrechen in der Ukraine. Die Lebensgrundlagen der Bevölkerung werden systematisch zerstört. Dazu kommen Massenexekutionen von Zivilisten, Vergewaltigungen werden als Kriegswaffe eingesetzt, ukrainische Kinder deportiert und in Russland zur Adoption freigegeben. Millionen Menschen werden zur Flucht gezwungen. Das sind Gräueltaten, die den Kriterien der Völkermord-Konvention der Vereinten Nationen entsprechen. Sie zielen auf die Zerstörung der Ukraine als eigenständige Nation.
Die Völkermord-Konvention verpflichtet die Staatengemeinschaft nicht nur zur Bestrafung eines Genozids, sondern auch zur Prävention.
Das ist der entscheidende Punkt! Die Staatengemeinschaft soll nicht erst aktiv werden, wenn ein Volk vernichtet ist. Sie soll möglichst frühzeitig eingreifen, um einen drohenden Völkermord zu unterbinden. Bislang verstecken sich die meisten europäischen Regierungen hinter dem Internationalen Strafgerichtshof, der zu russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine ermittelt. Vor dem Hintergrund der Völkermord-Konvention und der Verpflichtung zur Prävention kommen die Regierungen nicht um eine politische Bewertung herum.
Bundeskanzler Olaf Scholz hält sich mit deutlichen Worten allerdings seit Kriegsbeginn zurück.
Die Bundesregierung unterstützt die Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs zu russischen Kriegsverbrechen. Aber sie schreckt davor zurück, Putin als Kriegsverbrecher zu bezeichnen. Zugleich scheut man die Konsequenzen aus der UN-Völkermordkonvention. Daraus ergäbe sich eine Schutzverpflichtung gegenüber der Ukraine. Das bedeutet nicht, dass wir militärisch intervenieren müssten – aber eine Verschärfung der Sanktionen gegen Russland und die Einleitung von Strafverfahren gegen die Verantwortlichen wären zwingend, ebenso verstärkte Waffenlieferungen an Ukraine, um ihre Verteidigungsfähigkeit zu steigern.
Kampfpanzer wie der deutsche "Leopard 2" stehen ganz oben auf der Wunschliste der Ukraine. Im vergangenen Oktober hat das Europäische Parlament "insbesondere die zögernden Mitgliedstaaten" zu mehr Militärhilfe aufgefordert. Verhallte der Ruf ungehört in Berlin?
Der Kanzler hat bisher vermieden, klar zu sagen, dass wir alles tun werden, damit die ukrainische Armee die Invasoren über die Grenze zurückwerfen kann. Dem entspricht die Zurückhaltung bei der Lieferung der Waffensysteme, die dafür notwendig sind.
Genau davor scheint sich das Bundeskanzleramt zu fürchten.
Es gibt eine strategische Zweideutigkeit in der deutschen Haltung. Einerseits fordert man die Wahrung der territorialen Integrität und politischen Souveränität der Ukraine, gleichzeitig fürchtet man eine Eskalation des Krieges, wenn die Ukraine zur Gegenoffensive übergeht. Und man scheut davor zurück, Putin als Kriegsverbrecher zu bezeichnen, weil man die Tür für eine "diplomatische Lösung" mit dem Kreml offenhalten will.
Sehen Sie Bewegung in der Politik der Bundesregierung?
Es gibt immer mehr Stimmen aus der Koalition, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen muss. Ich hoffe, dass auch der Kanzler sich in diese Richtung bewegt. Der Westen sollte sich auf drei grundlegende Ziele verständigen: Erstens verstärkte militärische und finanzielle Unterstützung für die Ukraine, zweitens die Bestrafung von Kriegsverbrechen, drittens ist Russland zu Schadensersatz verpflichtet. Alles zusammen wären gewichtige Schritte zur Restituierung der europäischen Friedensordnung.
Nicht nur die Ukraine würde Wladimir Putin spätestens bei einem Kriegsende höchstselbst am liebsten auf der Anklagebank sitzen sehen.
Wenn Putin angeklagt wird, ist er kein Verhandlungspartner mehr. Allerdings setzt sich mittlerweile eine wachsende Anzahl von Staaten für die Einrichtung eines Sondertribunals ein, das die russische Führung für die Entfesselung eines Angriffskrieges belangen soll.
Dazu müsste man Wladimir Putins aber überhaupt erst einmal habhaft werden.
Man kann ein solches Tribunal auch in Abwesenheit der Angeklagten führen. Das wäre auch ein klares Signal an die russischen Eliten, dass es mit Putin keine Zukunft für Russland gibt.
In zahlreichen westlichen Regierungszentralen herrscht offenbar geradezu Furcht, dass bei einem möglichen Ende Putins Russland im Chaos versinken könnte. Was halten Sie davon?
Wir dürfen Russland eine Niederlage in der Ukraine nicht ersparen. Das liegt auch im Interesse der russischen Demokraten. Putin will das russische Imperium wiederherstellen, das ist seine Obsession. Nur eine Niederlage in der Ukraine kann zu einer Ausnüchterung und Erneuerung führen. Russland muss sich von seinem imperialen Wahn verabschieden – sonst wird es in Europa keine Sicherheit und Stabilität geben. Das liegt in Deutschlands ureigenem Interesse. Wenn Putin in der Ukraine siegreich ist, warum sollte er dann dort Halt machen?
Eine provokante Frage: Gibt es denn in Russland überhaupt noch ausreichend Demokraten, die sie gerade angesprochen haben? Hunderttausende haben das Land seit Kriegsbeginn verlassen, Putin hat mit Alexej Nawalny seinen schärfsten Kritiker ins Lager sperren lassen.
Wir haben eine andere Lage als 1990 nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Es gibt erfahrene politische Kräfte im Land und im Exil, die an einer Zukunft nach Putin arbeiten. Neben den Hunderttausenden, die das Land verlassen haben, sind zahlreiche Aktivisten im Land geblieben. Wir sprechen oft mit Vertretern der russischen Opposition im Exil. Diese Leute haben klare Vorstellungen für die Zeit nach Putin.
Welche Vorstellungen sind das?
Der erste Schritt besteht in der Bildung einer breiten Regierung der nationalen Einheit. Sie soll den Krieg sofort beenden, freie Wahlen durchführen und erklären, dass Russland seine Nachbarstaaten nie wieder militärisch bedrohen wird.
Wie realistisch wäre ein solches Szenario? Russland wird vom Geheimdienst kontrolliert, auch die mächtigen Oligarchen treiben ihr eigenes Spiel. Von Armee und Ultranationalisten ganz abgesehen.
Auf Putin wird nicht zwangsläufig Chaos folgen, ich halte diese Furcht für überzogen. Es wird oft unterschätzt, dass sich die russische Gesellschaft in den letzten Jahren trotz der autoritären Herrschaft modernisiert hat, das gilt zumindest für die urbanen Mittelschichten. Auch wenn der Weg zu einem demokratischen Russland noch weit ist, beträgt der Teil der russischen Bevölkerung, der Putins aggressiven und nationalistischen Kurs bedingungslos unterstützt, fundierten Untersuchungen zufolge kaum mehr als 20 Prozent.
Ein erheblicher Teil der oppositionellen Kräfte befindet sich allerdings im Exil, ein anderer in Haft, während andere schweigen.
Wir sollten dennoch die Möglichkeit auf demokratischen Wandel in Russland nicht abschreiben. Den russischen Eliten muss signalisiert werden: Putins Weg führt in den Abgrund. Eine Kursänderung würde die Tür zur Kooperation mit dem Westen öffnen – einschließlich einer ökonomischen Stabilisierung. Mit dem jetzigen Regime geht Russlands Wirtschaft den Bach runter.
Aller Wahrscheinlichkeit nach wird Putin aber nicht freiwillig abtreten.
Eine militärische Niederlage in der Ukraine wird Putin politisch nicht überleben – das sagen fast alle Russland-Experten. Das gilt erst recht, wenn Putin die Krim verliert.
Damit wären wir bei einem möglichen Einsatz von Atomwaffen durch Russland angelangt, um für Putin das Schlimmste zu verhindern.
Wir stehen Putins Drohungen nicht wehrlos gegenüber. Die USA haben bereits eine effektive Politik der Abschreckung eingeschlagen. Sie kündigen an, dass Russland bei einem Einsatz von Massenvernichtungswaffen einen sehr hohen Preis bezahlen wird. Außerdem wäre Putin nach einem nuklearen Angriff international isoliert – auch der chinesische Präsident Xi Jinping hat vor einem Einsatz von Atomwaffen gewarnt. Die russischen Eliten wollen nicht mit Putin untergehen. Es kommt entscheidend auf eine klare Haltung des Westens an, dass wir uns einer nuklearen Erpressung nicht beugen werden.
Ein Teil dieser Eliten müsste allerdings wegen der Verbrechen gegen die Ukraine vor Gericht gestellt werden.
Es muss Konsequenzen aus diesem genozidalen Angriffskrieg geben, richtig. Im Idealfall richtet die Vollversammlung der Vereinten Nationen ein Sondertribunal ein, sonst wäre alternativ der Europarat in der Pflicht. Es muss klargestellt werden, dass niemand straflos die Landkarte Europas mit Gewalt verändern kann.
Herr Fücks, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Ralf Fücks via Telefon