Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Historiker Baberowski "Auf diesen Moment wartet Putin"
Verliert Putin den Krieg in der Ukraine? Von wegen, sagt der Historiker Jörg Baberowski. Im Interview mit t-online warnt er vor den wahren russischen Hardlinern.
Rückschläge muss die russische Armee in der Ukraine zuhauf hinnehmen, nun soll die Mobilisierung von Hunderttausenden Reservisten die Kriegslage drehen. Im Westen sieht man darin ein Zeichen der Schwäche, viele Beobachter hoffen sogar, dass Putins Tage im Kreml bereits gezählt sind. Diese Hoffnung ist naiv, kritisiert mit Jörg Baberowski einer der renommiertesten deutschen Osteuropahistoriker: Putins Herrschaft sei stabiler, als hierzulande viele meinen.
Warum die mächtigste Waffe des Kremlchefs ihre volle Wirkung noch gar nicht entfaltet hat, Putin nun durch russische Hardliner unter Druck gesetzt wird und Deutschland in diesem Konflikt noch eine wichtige Rolle zukommen könnte, erklärt Baberowski im folgenden Gespräch.
t-online: Professor Baberowski, Putin hat sich bei seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine offenkundig verrechnet. Seine Armee steht unter Druck, nun beruft er Hunderttausende Reservisten ein. Ist das der Anfang vom Ende seiner Herrschaft?
Jörg Baberowski: Nein, ich fürchte, dass Putins Ende noch nicht gekommen ist. Macht besitzt, wer warten kann – und Putin kann warten. Diese Lektion hat er im Geheimdienst gründlich gelernt, und er befolgt sie bislang mit großem Erfolg.
Sein Feldzug verläuft aber alles andere als erfolgreich. Manche Beobachter sprechen angesichts der ukrainischen Erfolge im Donbass bereits von der Kriegswende.
Das ist reines Wunschdenken. Weder ist die russische Armee zusammengebrochen noch droht das Regime in Moskau zu kollabieren. Im Gegenteil: Die Reihen um Putin haben sich noch fester geschlossen. Je größer die Bedrängnis ist, desto entschlossener wird Putins Regime an seinen Zielen festhalten und den Krieg fortsetzen, auf welchem Niveau dies auch immer geschehen mag.
Aber Putins Teilmobilmachung ist doch kein Zeichen von Stärke. Er weiß sich nicht mehr anders zu helfen, als untrainierte Bürger in den Krieg zu schicken. Es gibt Proteste, viele Männer fliehen aus Russland. Meinen Sie nicht, dass das seine Herrschaft untergräbt?
Bislang beschränkten sich die Proteste auf die großen Städte, vor allem Moskau und Sankt Petersburg. An ihnen nahmen vor allem junge Menschen aus studentischem Milieu teil, also diejenigen, denen es seither gelingt, sich vom Dienst in der Armee freizukaufen. Proteste gibt es auch in Dagestan, einer Region, die mehrheitlich von Muslimen bewohnt wird, die überhaupt kein Interesse daran haben, in der Ukraine verheizt zu werden. Ich habe allerdings Zweifel, dass daraus koordinierte und organisierte Widerstandshandlungen erwachsen werden.
Was dann?
Wahrscheinlich kommt es wie immer. Die Armen werden die Zeche zahlen müssen: mittellose Männer aus der Provinz, Angehörige ethnischer Minoritäten, die sich ihrer Rekrutierung nicht widersetzen können. Warum sollten sie sich mit den Studenten in der Hauptstadt solidarisieren? Abgesehen davon gibt es in Russland keine organisierte Gegenwehr, keine bürgerliche Gesellschaft, die imstande wäre, sich dem Regime kraftvoll zu widersetzen.
Jörg Baberowski, Jahrgang 1961, lehrt Osteuropäische Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsfelder sind unter anderem der Stalinismus und die Geschichte der Gewalt. 2012 erhielt Baberowski den Preis der Leipziger Buchmesse für sein Standardwerk "Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt". Drei Jahre später erschien seine Studie "Räume der Gewalt", 2021 dann "Der bedrohte Leviathan. Staat und Revolution in Russland".
Die Kriegsführung des Kremls wird mittlerweile auch im russischen Fernsehen kritisiert. Sehen Sie Anzeichen eines Meinungsumschwungs in der russischen Bevölkerung?
In Talkshows und auf den Youtube-Kanälen der russischen Militärblogger wird seit Kurzem offen vom Versagen der Streitkräfte gesprochen. Das ist tatsächlich neu – ebenso wie die Tatsache, dass nun auch vom Krieg die Rede ist. Die Kritik aber richtet sich nicht gegen den Krieg an sich, sondern gegen die Art und Weise, wie er bisher geführt worden ist: Von Verrat ist die Rede, Putin sei falsch informiert und beraten worden, und er müsse jetzt zeigen, dass dieser Krieg notfalls mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln bis zum siegreichen Ende fortgeführt werden könne. Mit der Teilmobilmachung reagiert Putin auf diese Stimmen: Er will zeigen, dass er entschlossen ist, nicht nachzugeben und um jeden Preis siegreich zu sein.
Welche Rolle spielt dabei Putins Energiewaffe gegen den Westen?
Wir werden im bevorstehenden Winter wahrscheinlich erleben, wie sich die Haltung der europäischen Staaten gegenüber diesem Krieg langsam verändert. Die Inflationsrate steigt, die Energiekosten werden den Bürgern zu schaffen machen, Unternehmen werden Konkurs anmelden, Arbeitsplätze verloren gehen. Putin wird versuchen, die Front bis zum Einbruch der Kälteperiode zu halten und neue Verbände, Waffen und Munition heranzuführen. Falls die Ukrainer nun keine größeren Geländegewinne mehr erzielen, wird unter dem Druck sozialer Proteste in Westeuropa die Bereitschaft abnehmen, der Ukraine militärische Unterstützung zu gewähren. Auf diesen Moment wartet Putin, und ich fürchte, dass er kommen wird, wenn auf dem Schlachtfeld nichts Unvorhergesehenes mehr geschieht.
Aber nicht nur wir im Westen haben wirtschaftliche Schwierigkeiten. Wie hart treffen die Sanktionen Putins Regime?
Die Sanktionen haben nicht wie erhofft zum Zusammenbruch der russischen Wirtschaft geführt. Der Rubel ist stabil, die Einnahmen aus Rohstoffexporten steigen, in den Geschäften in den großen Städten ist vom Mangel noch nicht viel zu sehen. Zwar haben seit Kriegsbeginn mehr als 400.000 Russen ihre Heimat verlassen, oftmals gut ausgebildete junge Menschen. Aber sie wurden durch soziale Aufsteiger ersetzt, die gute Gründe haben, sich loyal zu verhalten. Die Emigration von Hunderttausenden ist ein Verlust. Auf der anderen Seite stabilisiert sie auf paradoxe Weise das Regime, weil sich vor Profiteuren niemand fürchten muss. Ich fürchte, dass der Krieg mit aller Härte fortgeführt wird, zumal jetzt verkündet wird, Russland stehe im Krieg gegen die Nato und kämpfe um sein Überleben.
Bisher sind Putins Versuche, die Ukraine schnell zu bezwingen, allesamt fehlgeschlagen. Was war im bisherigen Kriegsverlauf der größte Fehler der russischen Armee?
Die russische Armee ist im Februar 2022 völlig unvorbereitet in die Ukraine einmarschiert, weil ihre Kommandeure annahmen, die Besetzung des Nachbarlandes werde nur drei Tage dauern. So aber wurden die Einheiten zur Zielscheibe der Verteidiger. Auch sind die Soldaten überwiegend schlecht ausgebildet und werden schlecht geführt. Die Logistik ist miserabel, die Kampfmoral gering. Soldaten, die nicht verpflegt werden, nicht einmal eine Unterkunft zu ihrer Verfügung haben und ununterbrochen an der Front sind, lassen sich irgendwann nicht mehr motivieren. Zudem stammen viele in der Ukraine eingesetzte Soldaten aus den Reihen ethnischer Minoritäten: Burjaten, Jakuten, Tschetschenen. Diese Männer kämpfen nicht für Russland, sie kämpfen für Geld, weil sie ihre Familien daheim unterstützen müssen. Sie kämpfen allenfalls um ihr Überleben, aber nicht für die Restauration des russischen Imperiums.
Mit der Teilmobilmachung werden nun aber auch Männer aus anderen Teilen Russlands einberufen, etwa aus Moskau und St. Petersburg. Wenn sie getötet werden, wird das die Stimmung nicht gegen Putins Regime wenden?
Die meisten Rekruten kommen aus der Provinz, nicht aus Moskau und St. Petersburg. Und es wird, wie stets, Wege geben, die Söhne der Begüterten vor dem Dienst in der Armee zu bewahren. In der Provinz werden sich die Proteste in Grenzen halten. Zwar ist der Unmut groß, wie überall, wo junge Männer aus ihren Familien gerissen und in die Schlacht geworfen werden. Wer findet daran schon Gefallen? Aber es gibt natürlich noch eine andere Seite. Die russischen Medien sprechen nur noch von einem Verteidigungskrieg, der gegen die Nato geführt werden müsse. Stünde Russland militärisch am Abgrund, und gelänge es der Regierung, diesen Krieg als Überlebenskampf gegen die Nato zu verkaufen, dann könnte sich die Stimmung ändern.
Aber ein langwieriger Krieg mit vielen Toten zermürbt doch die Bevölkerung. Schon der Afghanistan-Feldzug in den Achtzigerjahren war äußerst unpopulär, er trug sogar zum Untergang der Sowjetunion bei. Könnte der Ukraine-Krieg langfristig dieselbe Wirkung entfalten?
Der Krieg in Afghanistan war unpopulär, weil niemand einen Sinn darin sah. Was hatte die sowjetische Armee dort zu suchen, fragten sich die meisten Bürger? Auch Russlands Intervention in Syrien stieß auf wenig Zustimmung. Wenn die russische Armee aber in der Ukraine in existenzielle Bedrängnis geraten sollte, könnte sich die Situation verändern. Aus diesem Grund hat Putin die westlichen Waffenlieferungen in seiner Rede zur Teilmobilmachung überhaupt erwähnt: Die Nato wolle Russland zerstören und zerstückeln, so hat es auch Außenminister Lawrow vor der UN-Vollversammlung gesagt. So abwegig uns das auch erscheinen mag, viele Russen halten dieses Szenario für plausibel.
Sehen Sie wirklich Anzeichen für einen derartigen Hurra-Patriotismus in Russland? Bisher nimmt die russische Bevölkerung die Kämpfe seit Februar doch eher mit Lethargie hin.
Stimmungen verändern sich. Heute herrscht noch Lethargie, weil einen der Krieg nicht betrifft, und morgen schon ist man selbst in das kriegerische Geschehen hineingeworfen. Die Propagandisten feuern die Wut auf den Westen an, sprechen von Verrätern, die Putin betrogen hätten. Nun habe er keine Wahl mehr, so heißt es, als Russlands Überleben zu sichern.
Die ukrainischen Erfolge haben den Scharfmachern in Moskau also noch Rückenwind gegeben?
Die Scharfmacher gewinnen an Einfluss, die "Gemäßigten" werden still. Putin sitzt nach wie vor fest im Sattel, solange sich keine Alternative eröffnet. Und deshalb braucht er jetzt dringend einen militärischen Erfolg, um die Scharfmacher in der Regierung auf Abstand zu halten. Putins Macht wird nicht von Liberalen, sondern von Hardlinern im eigenen Apparat herausgefordert. Sie verbreiten die Erzählung, dass Putin von seinen Generälen betrogen und hintergangen worden sei, er deshalb jetzt Härte und Entschlossenheit zeigen müsse.
Das klingt, als wenn diese Leute den Krieg tatsächlich bis zum Äußersten treiben wollen.
Ja, das ist wahrscheinlich so. Die Scharfmacher bestimmen, wie es weitergeht. Ich möchte mir nicht vorstellen, was geschehen würde, wenn einer von ihnen an die Schalthebel der Macht geriete.
Einige Kommunalpolitiker aus St. Petersburg haben aber scharfe Kritik am Kreml geäußert und sogar Putins Absetzung gefordert. Zumindest etwas Hoffnung gibt also doch.
Die Kritik dieser Politiker verhallt leider. St. Petersburg ist seit jeher ein mehr oder weniger liberaler Ort, wo Derartiges noch gesagt und toleriert wird. Das Regime aber hat die Machtstrukturen noch unter Kontrolle. Ein Machtkampf an der Spitze des Staates wäre für die Herausforderer gefährlich. Denn wenn Putin fällt, fallen alle seine Handlanger mit ihm – und sie müssten damit rechnen, zur Verantwortung gezogen zu werden. Deshalb scharen sich selbst jene um den Führer, die ihm Fehler und Versäumnisse vorwerfen.
Kürzlich hat er sogar das Land verlassen, um in Usbekistan an einer Konferenz teilzunehmen. Anderen Machthabern wurden solche Abwesenheiten in der Vergangenheit zum Verhängnis.
Putin kann jederzeit in befreundete Länder fliegen, weil er weiß, dass ihn zurzeit niemand herausfordert. Wir wollen daran glauben, dass auch in Russland die Stunde der liberalen Opposition kommen wird. Bislang waren alle liberalen Signale nichts als Inszenierungen: Dmitri Medwedew, der von 2008 bis 2012 russischer Präsident gewesen ist, wurde einmal als liberale Alternative zu Putin wahrgenommen. Jetzt wissen wir, dass die Repräsentation von Gegensätzen eine Inszenierung war.
Damals mussten noch Fassaden errichtet werden, heute kann die Regierung ganz offen bekennen, dass sie den Westen verachtet. Deshalb hält Russland an seinen Kriegszielen fest und versucht, die westliche Einheit zu sprengen. Die Wahlergebnisse in Schweden und Italien bestärken Moskau in seiner Erwartung, dass sich das westliche Lager selbst zerlegen wird.
Warum?
Natürlich fragen sich die Bürger in fast allen europäischen Staaten, ob sie Opfer für einen Krieg erbringen sollen, der sie nicht betrifft. In Polen ist die Bereitschaft, Opfer zu bringen, zweifellos größer als in Italien oder Frankreich. Aber es ist doch schon jetzt abzusehen, dass Wahlen nur noch gewinnen kann, wer sich in der sozialen Frage auf die Seite der Verbitterten und Enttäuschten stellt.
In Frankreich und Schweden stritten die Parteien über die Wirtschaftskrise, die Inflation, Einwanderung und Kriminalität. Der Krieg in der Ukraine war ein Thema, das nur am Rand behandelt wurde. Putin wird das zunehmende Desinteresse an seinem Krieg für seine Zwecke ausnutzen. Zur Not führt er den Krieg auch ohne militärische Erfolge weiter, mit Angriffen auf die Zivilbevölkerung – so lange, bis der Gegner zermürbt ist und die Unterstützung für die Ukraine wegbricht.
Sollten Deutschland und die anderen westlichen Staaten der Ukraine also jetzt Angriffswaffen wie etwa Kampfpanzer liefern?
Deutschland ist unwichtig. Die USA beliefern die Ukraine mit dem militärischen Gerät, das sie brauchen. Aber selbst wenn Deutschland imstande wäre, die Ukraine ausreichend mit Waffen zu versorgen, müsste doch zweierlei bedacht werden: Die Bundeswehr kann nicht ihr gesamtes Gerät abgeben, ohne selbst nackt dazustehen, denn auch die Soldaten der Bundeswehr müssen an Panzern und Artilleriegeschützen ausgebildet werden. Auch kann die Rüstungsindustrie Waffen nicht nach Bedarf produzieren.
Deutschland hat der Ukraine aber weiteres Militärgerät zugesagt.
Ein neuer Panzer rollt ja nicht sofort vom Band, sondern muss bestellt, bezahlt und hergestellt werden. Er braucht Munition, Ersatzteile und eine Mannschaft, die ihn bedienen kann. Irgendwann gehen auch Waffen zur Neige, wenn sie nicht unter Bedingungen der Kriegswirtschaft produziert werden. Ich halte den umsichtigen Kurs des Bundeskanzlers für angemessen. Wer Brücken völlig abbricht, kann am Ende auch nicht mehr als Vermittler im Friedensprozess in Erscheinung treten. Das ist die einzige Rolle, die Deutschland einnehmen kann. Als Militärmacht spielt Deutschland überhaupt keine Rolle.
Erkennen Sie denn im Vorgehen des Kanzlers eine klare Strategie?
Nein, die Bundesregierung hat offenbar keine Strategie, niemand hat eine Vorstellung davon, wie die Sicherheitsarchitektur nach dem Ende des Krieges aussehen soll. Russland wird möglicherweise den Krieg verlieren, aber es wird nicht besetzt und aufgeteilt werden, es wird nicht verschwinden. Und auch mit dem Erbe des untergegangenen Imperiums werden wir uns noch eine gewisse Zeit beschäftigen müssen. Egon Bahr, einer der Architekten der Entspannungspolitik, hat einmal gesagt, die USA seien für Europa unverzichtbar, Russland hingegen unverrückbar. Er spielte damit auf Russlands Größe und seine Ressourcen an. Daran hat sich nichts geändert.
Was lässt sich heute daraus lernen?
Im Schatten des Ukraine-Krieges haben sich neue Konflikträume eröffnet: Aserbaidschan und Armenien, Kirgistan und Tadschikistan lieferten einander Gefechte, weil die Aggressoren um die momentane Schwäche Russlands wissen. Bislang haben russische Soldaten die Konfliktparteien auseinandergehalten und den Frieden garantiert. Damit ist es nun vorbei. Soll man sich darüber freuen? Ich habe Zweifel.
Sie befürchten, dass noch mehr autoritäre Regime die Gelegenheit ergreifen, um andere Länder oder Regionen zu überfallen?
Putin hat einen Raum der Gewalt geöffnet, den er nun nicht mehr unter Kontrolle bringen kann. Und er hat anderen ein Beispiel dafür gegeben, dass Grenzen militärisch verrückbar sind. Davon wollen nun auch andere Gebrauch machen.
Gegenwärtig zeigen weder die Russen noch die Ukrainer Interesse an Waffenstillstandsverhandlungen. Wie könnte aber eine übergeordnete Strategie überhaupt aussehen, um wieder eine stabile und friedliche Ordnung im Osten Europas zu etablieren?
Der Westen kann und darf die Ukrainer nicht fallen lassen. Zugleich muss aber ein realistisches Szenario für die Zeit nach dem Krieg entworfen werden. Dazu gehört eben auch, dass Russlands Sicherheitsinteressen auf die eine oder andere Weise berücksichtigt werden. Erst wenn niemand mehr daran glaubt, dass der Westen Russland einkreisen und zerstören wolle, wird es in Russland Veränderungen geben können. Sie liegen auch im Interesse des Westens, denn wer kann schon wollen, dass sich in Russland eine Kultur der Rache und der Vergeltung ausbreitet? Mit anderen Worten: Es kommt darauf an, eine Nachkriegsordnung zu schaffen, die es Russland erleichtert, sich vom Imperium zu verabschieden. Wenn das nicht gelingt, werden die kriegerischen Konflikte kein Ende nehmen.
Das klingt nicht nach einer schnellen Befriedung.
Russland wird sich im Belagerungszustand wähnen, solange der Kreml der russischen Bevölkerung weismachen kann, dass der Westen die Ukraine benutze, um Russland zu zerstören. Nach dem Ende des Krieges müssen Russland und die Ukraine wieder in ein friedliches Verhältnis zueinander finden. Das wird nicht heute oder morgen geschehen, aber irgendwann werden die Wunden verheilt sein, und dann kommt es darauf an, einen Weg zum Frieden zu finden, der allen Seiten mehr oder weniger gerecht wird. Es ist einfach Unfug, wenn nun behauptet wird, diese Frage werde allein auf dem Schlachtfeld entschieden. Deutschland wurde 1945 zwar militärisch niedergeworfen, der Frieden aber erst durch Integration und Verständigung dauerhaft gesichert. Ohne die Einbindung Deutschlands in eine europäische Wirtschafts- und Sicherheitsarchitektur wäre der Frieden stets brüchig geblieben.
Auch die westlichen Staaten haben in Konflikten in den vergangenen Jahrzehnten nicht immer eine vorbildliche Rolle gespielt. Wie ernst wird die westliche Werteordnung in der übrigen Welt noch genommen?
Im globalen Maßstab ist Europa nicht mehr wichtig. Darauf sollten sich die Regierungen im Westen Europas unbedingt einstellen. Die meisten Länder der Erde sind keine Demokratien, und sie halten den Export westlicher Rechts- und Moralvorstellungen für eine imperialistische Anmaßung. Europa steht in vielen Ländern auch aufgrund der kolonialen Vergangenheit in schlechtem Ruf. Das mag bedauerlich sein, aber die Europäer sind nicht imstande, daran etwas zu ändern. Putin weiß, dass er sich in China, Indien oder Iran für nichts rechtfertigen muss.
Aber als Europäer können wir den Anspruch universeller Menschenrechte doch nicht einfach aufgeben.
Natürlich sollte man diesen Anspruch nicht aufgeben, aber vielleicht begreifen, dass ein Anspruch nur etwas taugt, wenn man ihn auch durchsetzen kann. Die Diplomatie lebt von Möglichkeiten, nicht von Wünschen. Wer das Unmögliche verlangt, wird am Ende am Erreichbaren scheitern. Mit moralischer Empörung können wir Putin nicht beikommen. Wir müssen allen, die am Krieg beteiligt sind, Auswege eröffnen, die sie auch beschreiten könnten. Andernfalls wird der Krieg noch jahrelang dauern, und das kann eigentlich niemand wollen, weil seine Folgen auch uns hart treffen würden.
Professor Baberowski, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Jörg Baberowski via Videokonferenz