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Völkermord an Armeniern vor 100 Jahren: die deutsche Schuld


Völkermord an den Armeniern
"Das Recht, die Deutschen für die nächsten 100 Jahre zu hassen"

Von t-online, dpa
Aktualisiert am 23.04.2015Lesedauer: 4 Min.
Hunderttausende Armenier kamen 1915 bei Todesmärschen in der Wüste ums Leben.Vergrößern des Bildes
Hunderttausende Armenier kamen 1915 bei Todesmärschen in der Wüste ums Leben. (Quelle: dpa-bilder)

Am Freitag vor 100 Jahren begann der Völkermord an den Armeniern (hier die Fakten als Foto-Serie). Die Regierung des Osmanischen Reichs schickte die Opfer auf Todesmärsche in die Wüste, sie wurden erschlagen und erschossen. Noch heute leben die Nachfahren der Überlebenden in der Türkei in Angst. Und sie sind wütend - nicht nur auf die türkische Regierung, die sich noch immer den Begriff Völkermord verbittet - sondern auch auf Deutschland.

Denn auch das Deutsche Reich hatte seinen Anteil an den Massakern an dem christlichen Volk: Deutschland und die Türkei standen zur Zeit des Völkermordes - kurz nach Beginn des Ersten Weltkrieges - Seite an Seite. Deutschland wollte das Osmanische Reich wirtschaftlich erschließen - unter anderem durch den Bau der Bagdad-Bahn.

Zudem arbeiteten die Heere beider Länder eng zusammen: Deutsche Offiziere kommandierten türkische Truppen. Generalstabschef des osmanischen Heeres war der preußische Generalmajor Friedrich Bronsart von Schellendorf.

"Schlimmer im Wucher wie die Juden"

Wie der Journalist und Türkei-Experte Jürgen Gottschlich in seinem Werk "Beihilfe zum Völkermord" beschreibt, begrüßte von Schellendorf die Deportationen der Armenier sogar. Sie seien "neunmal schlimmer im Wucher wie die Juden". Ein anderer deutscher Offizier im Osmanischen Reich, Admiral Wilhelm Souchon, der die türkische Flotte kommandierte, meinte: "Für die Türkei würde es eine Erlösung sein, wenn sie den letzten Armenier umgebracht hat, sie würde dann die staatsfeindlichen Blutsauger los sein."

Diplomaten und niedere Offiziere reagierten teils entsetzt auf die Massaker. Konsule schickten Telegramme nach Berlin und teilten mit, was sie gesehen hatten. Doch die deutsche Regierung blieb eiskalt: Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg schrieb ans Auswärtige Amt: "Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht."

"Verantwortung für jeden Tropfen armenischen Blutes"

Bislang sprachen auch Vertreter der Bundesrepublik nicht von Genozid. Nun leiteten die Regierungsfraktionen von Union und SPD nach langer Debatte jedoch einen Kurswechsel ein. In dem Entwurf für die Gedenkstunde am 24. April im Bundestag ist von "Völkermord" die Rede - und von der "unrühmlichen Rolle des Deutschen Reiches, das trotz eindeutiger Informationen über die organisierte Vertreibung und Vernichtung der Armenier nicht versucht hat, diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu stoppen."

Gafur Türkay ist heute 50 Jahre alt, er sitzt im Hof der St.Giragos-Kirche in der südosttürkischen Kurdenmetropole Diyarbakir. Sein Großvater gehörte zu den wenigen, die die Massaker überlebt hatten. Türkay hält schon die Frage nach der Einordnung der Gräueltaten für eine Zumutung: "Wir sollten gar nicht erst darüber diskutieren. Schon meine Großmutter sagte, dass selbst die Kühe auf der Weide wissen, dass es ein Genozid war." Die Deutschen seien dafür genauso verantwortlich wie die Türken.

"Die Deutschen tragen Verantwortung für jeden Tropfen armenischen Blutes", meint Türkay. "Aus meiner Sicht haben die Armenier das Recht, die Deutschen für die nächsten 100 Jahre zu hassen. Hätten sie das Osmanische Reich nicht unterstützt, wäre das alles nicht passiert."

"Eine Entschuldigung wäre genug"

Ergün Ayik, der in Istanbul lebende Vorsitzende der St.Giragos-Kirchenstiftung, formuliert das diplomatischer. Er sagt, ihm sei gar nicht so wichtig, ob Deutschland von Völkermord spreche oder nicht. "Eine Entschuldigung wäre genug."

Wie ist das Leben der Nachfahren heute in der Türkei? "Wenn der Begriff 'Armenier' immer noch als Beleidigung verwendet wird, können Sie sich vorstellen, wie schwer es ist."

Türkay spielt auf Recep Tayyip Erdogan an. Der türkische Staatspräsident sagte vor seiner Wahl im August, man habe ihn schon viel geschimpft - einen Georgier zum Beispiel oder noch "hässlichere Dinge": nämlich einen Armenier.

Türkay ist im Vorstand der St.Giragos-Kirchenstiftung. Das größte armenische Gotteshaus im Nahen Osten war eine Ruine, bis Ende 2010 der Wiederaufbau begann. Finanziert haben ihn vor allem Armenier, die in der Türkei und verstreut in der Welt leben.

Seit zwei Jahren erstrahlt die St.Giragos-Kirche, die deutsche Soldaten im Ersten Weltkrieg als Kaserne missbrauchten, in neuem Glanz. Gottesdienste gibt es trotzdem kaum. Die Gemeinde in Diyarbakir zählt nur eine Handvoll Gläubige. Zu den höchsten Festen fliegt ein Priester aus Istanbul ein, wo schätzungsweise 60.000 Armenier die heute größte Gemeinschaft in der Türkei stellen.

Zurück zu den Wurzeln

Diyarbakir war bis zu den Vertreibungen im Ersten Weltkrieg eine Hochburg der Armenier. "Anfang des 20. Jahrhunderts waren 60 Prozent der Bevölkerung Christen", berichtet Türkay. "Drei Gruppen haben den Völkermord überlebt: Kinder, hübsche Mädchen und Handwerksmeister." Sein Großvater gehörte zur ersten Gruppe. Fast alle der Überlebenden konvertierten zum Islam, weil sie dazu gezwungen wurden oder weil sie sich Schutz davon erhofften.

Der Großvater wurde vermutlich von einer kurdischen Familie als Muslim aufgezogen, Türkays Vater pilgerte sogar nach Mekka. Auch Türkay wuchs als Muslim auf, wusste allerdings schon als Kind um seine armenische Herkunft. Vor fünf Jahren kehrte er zu seinen Wurzeln zurück - und ließ sich taufen.

Immer mehr armenische Türken besinnen sich auf ihre Herkunft. Nur wenige haben allerdings den Mut, dem islamischen Glauben den Rücken zu kehren. "Manche schämen sich", sagt Türkay. "Sie sind als Muslime aufgewachsen." Hinzu komme, dass Armenier 100 Jahre lang "ermordet oder unterdrückt" worden seien. "Sie haben viel Angst."

"Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit"

Im Jahr 2004 bekannte sich in Diyarbakir ein einziges Ehepaar offen dazu, armenisch zu sein. Heute sind es nach Schätzungen des Kurden Abdullah Demirbas, der bis vor kurzem Bürgermeister der Altstadt Diyarbakirs war, 300 bis 400 Menschen. Die meisten davon sind Muslime geblieben. Die tatsächliche Zahl der Menschen mit armenischen Wurzeln dürfte um ein Vielfaches höher liegen.

Ayik sagt, Armenier in der Türkei seien bis heute vorsichtig, Mitbürgern ihre Herkunft zu offenbaren. "Wenn es nicht nötig ist, sagen wir es nicht."

Demirbas kandidiert bei der Parlamentswahl im Juni für die pro-kurdische Partei HDP. Er hat als Bürgermeister den Wiederaufbau der St.Giragos-Kirche unterstützt. Sein Engagement für die Armenier und andere Minderheiten hat ihm viel Ärger mit dem Staat eingebracht, der sich weigert, die Massaker einen Völkermord zu nennen. "Für mich war das ein Genozid und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit", so Demirbas. "Ich habe mich persönlich dafür entschuldigt."

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