Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Russland vermittelt in Konflikt abseits der Ukraine "Jeder Tag könnte für uns der letzte sein"
Die Region Bergkarabach ist seit sieben Monaten isoliert. Nun blockieren aserbaidschanische Soldaten sogar Hilfslieferungen in das Gebiet – es droht eine Katastrophe.
Stellen Sie sich vor, im nächsten Supermarkt gibt es keine Waren mehr. Kein Brot, kein Fleisch, kein Obst. Alles, was Sie essen wollen, müssen Sie selbst anbauen. Wenn Sie das nicht können, droht der Hungertod.
Genau das ist die Situation in Bergkarabach. Die Region im Kaukasus, um die Armenien und Aserbaidschan in den vergangenen Jahren erbittert gekämpft haben, ist derzeit von der Außenwelt abgeschottet.
Das liegt an dem Ergebnis des Krieges um Bergkarabach, den Aserbaidschan im Jahr 2020 gegen Armenien führte – und gewann. Die Ausgangslage war kompliziert: International wird Bergkarabach als Teil Aserbaidschans anerkannt, ist aber mehrheitlich von Armeniern bevölkert – und sah sich selbst als unabhängig an. Im Krieg 2020 eroberten die Aserbaidschaner das umkämpfte Gebiet.
Seitdem war Bergkarabach nur noch über eine Straße direkt von Armenien zu erreichen, den sogenannten Latschin-Korridor. Dessen Öffnung wurde im Waffenstillstandsabkommen, das den Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan beendete, vereinbart – und russische Friedenstruppen sollten dieses Abkommen überwachen.
Journalistin: "Wir haben kein Benzin mehr"
Es kam allerdings anders. Seit mehr als sieben Monaten verhindern aserbaidschanische Soldaten weitgehend, dass Lebensmittel und sonstige Hilfsgüter in die umstrittene Region geliefert werden. Und Russland, eigentlich Schutzmacht Armeniens, zieht sich immer mehr aus der Verantwortung.
Die Journalistin Siranush Sargsyan lebt in Stepanakert, der Hauptstadt der Region Bergkarabach. "Wir haben kein Benzin und kein Gas mehr", erzählt sie im Gespräch mit t-online. Auch der Strom falle häufig aus. "Man wacht morgens auf und kann sich weder Kaffee noch sonst irgendein Frühstück machen", berichtet Sargsyan.
Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen X-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren X-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.
Nahrung werde langsam knapp. "Zu Beginn der Blockade konnte man sich wenigstens noch anstellen und sicher sein, Nahrung für sich und seine Kinder zu bekommen", berichtet Siranush Sargsyan. Mittlerweile sei das allerdings auch nicht mehr möglich. Die Supermarktregale seien leergefegt. Zu essen gebe es noch das, was man selbst oder solidarische Nachbarn auf dem eigenen Land anbauen. Das bestätigen auch Hilfsorganisationen, die in der Region tätig sind.
Der Konflikt um Bergkarabach
Der Konflikt ist einer der ältesten der Neuzeit. Die Führung der Sowjetunion sprach das überwiegend armenisch bewohnte Gebiet 1921 Aserbaidschan zu. Dagegen gab es in Bergkarabach immer wieder Proteste, bis Ende der 1980er-Jahre ein blutiger Konflikt ausbrach, in den schließlich auch Armenien einstieg und gemeinsam mit der Armee Bergkarabachs die Region unter ihre Kontrolle brachte. 2020 startete Aserbaidschan eine Offensive, um die Region zurückzuerobern. Bergkarabach selbst bezeichnet sich als unabhängig, in einer UN-Resolution wurde das Gebiet bis zu einer endgültigen Lösung des Konflikts Aserbaidschan zugesprochen.
Bis zum vergangenen Montag konnte zumindest das Internationale Rote Kreuz (ICRC) Hilfsgüter nach Bergkarabach schicken. Nun aber blockieren Soldaten aus Aserbaidschan den Latschin-Korridor komplett, auch das ICRC darf keine Hilfsgüter mehr liefern.
Dabei wäre diese Hilfe dringend notwendig. Eine Sprecherin des ICRC befürchtet in einem Gespräch mit t-online, die humanitäre Situation in der Region werde sich nun enorm verschlechtern. Das befürchtet auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International. Und Genozid-Forscher, etwa von der amerikanischen NGO GenocideWatch oder der International Association of Genocide Scholars, warnen vor einem drohenden Völkermord in Bergkarabach.
Russland kann Armenier nicht mehr schützen
Die einzige Unterstützung, die die ethnischen Armenierinnen und Armenier in Bergkarabach haben, sind aktuell russische Soldaten – sogenannte Friedenstruppen. Sie wachen über die brüchige Waffenruhe zwischen Armenien und Aserbaidschan. Da Russland seine Truppen allerdings derzeit für den Angriffskrieg gegen die Ukraine benötigt, können sie nicht mehr in ganz Bergkarabach präsent sein – und diese Schwäche nutzt Aserbaidschan vermehrt für Angriffe.
Zuletzt starben vier ethnisch armenische Soldaten der Verteidigungskräfte Bergkarabachs bei einem Angriff im April. Nur einen Monat zuvor starben drei armenische Polizisten aus Bergkarabach durch eine aserbaidschanische Maschinengewehrsalve. Alle Angriffe fanden in Bergkarabach statt und verletzten damit die im Dezember 2020 ausgehandelte Waffenruhe zwischen Armenien und Aserbaidschan. Von russischer Seite gab es keine Reaktion auf die Vorfälle.
"Warum zur Hölle sind sie dann hier?"
Noch zu Beginn der Blockade vor sieben Monaten halfen die russischen Soldaten der ethnisch armenischen Bevölkerung Bergkarabachs, erzählt die Journalistin Sargsyan: "Die Regionalregierung Bergkarabachs hat Essensmarken ausgeteilt, die wir bei den Russen einlösen konnten. So konnten viele hier ihre Familien ernähren."
Mittlerweile sei das allerdings nicht mehr der Fall. "Die Russen bringen zwar Vorräte auf dem Luftweg nach Bergkarabach, allerdings verteilen sie die nur noch an ihre eigenen Soldaten." Zu Beginn sei die Stimmung gegenüber den Russen noch wohlwollend gewesen, sagt Sargsyan. "Aber sie machen gar nichts. Warum zur Hölle sind sie dann hier?", ärgert sie sich.
Europäische Union kommentiert Situation nicht
Auch die EU scheint sich kaum für die Lage in Bergkarabach zu interessieren. Am Mittwoch veröffentlichte Josep Borrell, der hohe Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, ein kurzes Statement. "Die Europäische Union ist sehr besorgt", heißt es darin in Bezug auf die angespannte Lage in Bergkarabach. Allerdings begrüßt die EU dem Statement Borrells zufolge die Bereitschaft Aserbaidschans, humanitäre Hilfe nach Bergkarabach zu schicken. Man wolle diesbezüglich verhandeln.
Kommentieren wollen EU-Stellen die Situation in Bergkarabach auf Anfrage von t-online allerdings nicht. Es gibt sogar eine EU-Mission, die in Armenien die Einhaltung der international akzeptierten Grenzen beobachtet. Auf Anfrage fühlt man sich dort allerdings weder für das Bergkarabach noch für den laut internationalem Recht zu Armenien gehörenden Latschin-Korridor zuständig.
Sargsyan ärgert die Ignoranz gegenüber ihrem Volk. "Seitdem die Europäische Union einen Gas-Deal mit Aserbaidschan abgeschlossen hat, existieren wir für sie überhaupt nicht mehr", sagt die Journalistin. "Gas ist für den Westen wichtiger als unsere Leben." Im Jahr 2022 hatte die Europäische Union einen Vertrag mit Aserbaidschan abgeschlossen. Bis 2027 soll sich die Menge von Gaslieferungen aus der Autokratie am Kaspischen Meer verdoppeln. Ziel des Deals war, die Abhängigkeit Europas von russischem Gas zu verringern.
Gefahr für Schwangere und Kinder
Tragisch ist die humanitäre Lage auch für Schwangere. Sargsyan erzählt, es gebe viele Fehlgeburten. Das liege daran, dass auch Obst mittlerweile sehr knapp geworden sei. "Werdenden Müttern fehlen Nährstoffe wie Vitamine", erzählt sie. Währenddessen bricht ihre Stimme mehrmals.
Auch Säuglinge leiden unter der Mangelernährung, berichtet Sargsyan. Ihre Nachbarin habe einen Sohn, der gerade einmal sechs Monate alt sei. Es gebe keine Babynahrung mehr, weshalb seine Mutter dem Kind pürierte Kräuter und Gemüse zubereitet. Auch verhungerte Kinder soll es geben. Am 13. Juli erinnerte der armenische Außenminister Ararat Mirzoyan auf Twitter an zwei von ihnen: Der dreijährige Leo und die sechsjährige Gita seien an bereits an Mangelernährung gestorben.
Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen X-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren X-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.
Dass Hilfe für die ethnischen Armenierinnen und Armenier in Bergkarabach aus Aserbaidschan kommt, halten Beobachter für unwahrscheinlich. Die Propaganda des autoritären aserbaidschanischen Herrschers Ilham Alijew hetzt schon in der Schule gegen das armenische Volk, wie eine Recherche der britischen BBC aus dem Jahr 2022 zeigt.
Hetze schon auf dem Schulhof
Darin geht es auch um den Fernsehbericht eines aserbaidschanischen Lokalsenders. Kinder stehen auf einem Schulhof und rufen Parolen. "Dienst am Vaterland, Loyalität gegenüber dem Volk, Hass, Hass, Hass auf den Feind!", schreien sie. Der Reporter des Lokalsenders kommentiert dazu: "Diese Kinder sind die Soldaten, Ärzte, Lehrer von morgen; unsere Kinder, die unser Land an der Front verteidigen werden."
Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen Youtube-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren Youtube-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.
Die Hetze gegen die ethnisch armenische Bevölkerung in Bergkarabach kann schnell in Gewalt umschlagen. Das liegt laut der International Association of Genocide Scholars unter anderem daran, dass Ilham Alijew die armenische Bevölkerung fortlaufend entmenschlicht. "Ich habe gesagt, wir werden die Armenier fortjagen", sagte der Autokrat in einer Fernsehansprache im Dezember 2022, nach dem Krieg um Bergkarabach. "Wir haben sie davongejagt wie Hunde, wie die Hunde, die sie sind".
"Ich habe Angst vor einem Genozid"
Auch wegen solcher Propaganda hat Siranush Sargsyan Angst vor ethnischen Säuberungen in Bergkarabach. "Ich habe Angst vor einem Genozid", erzählt sie im Gespräch mit t-online. "Jeden Tag wache ich auf und denke, es könnte einer der letzten sein."
Besonders besorgt sie die Untätigkeit der internationalen Gemeinschaft. "Die Europäer und die USA schauen weg", sagt sie. Und Russlands Kräfte sind in der Ukraine gebunden. "Wenn es zum Genozid kommt, sind wir allein", sagt sie. "Kein Land wird diesen Völkermord verhindern."
- Telefongespräch mit einer Sprecherin des ICRC
- Telefongespräch mit Siranush Sargsyan
- Mailverkehr mit der EU-Mission in Armenien
- bbc.com: "'Врагу - ненависть, ненависть, ненависть'. Чем 'культ победы' оборачивается для азербайджанских школьников" (russisch)
- kas.de: "Krieg mit Ansage"
- icrc.org: "Azerbaijan/Armenia: Sides must reach 'humanitarian consensus' to ease suffering" (englisch)
- eeas.europa.eu: "Azerbaijan: Statement by High Representative Josep Borrell on the humanitarian situation on the ground" (englisch)
- youtube.com: "Vətənə xidmət Xalqa sədaqət Düşmənə nifrət, nifrət, nifrət.Bu şüarla hər gün dərs başlanır liseydə🇦🇿" (aserbaidschanisch)
- genocidescholars.org: "Statement on Azerbaijani Aggression Against the Republic of Armenia and the Indigenous Armenians of the South Caucasus"