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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Erdoğans riskanter Machtpoker Ein schwerer Schlag für Putin
Recep Tayyip Erdoğan hat kurz vor Beginn des Gipfels in Vilnius den Weg für den Nato-Beitritt Schwedens frei gemacht. Aber zu welchem Preis? Nur eines scheint klar: Das riskante Spiel der Türkei zeigt, wie schwach Wladimir Putin aktuell ist.
Plötzlich ist der Weg frei. Recep Tayyip Erdoğan hat am Montagabend, kurz vor Beginn des Nato-Gipfels in Vilnius, seine Blockade des Nato-Beitritts von Schweden aufgegeben. Das skandinavische Land wird das 32. Mitglied der westlichen Militärallianz – ein historischer Schritt für Schweden und die Nato.
Auch deshalb steht der Dienstag beim Nato-Treffen in Litauen im Zeichen der Erleichterung. Doch im Schatten dieser Erleichterung drängt sich vor allem eine Frage auf: Was hat Erdoğan dafür bekommen? Und was heißt das für Wladimir Putin?
Über die genauen Motive Erdoğans lässt sich auch am Tag danach nur spekulieren. Fest steht: Der türkische Präsident hat die Nato erpresst, wollte zuletzt sogar die Wiederaufnahme des EU-Beitrittsprozesses für die Türkei erreichen. Noch ist völlig unklar, welche Zugeständnisse Schweden, die USA und die Europäische Union machen mussten. Doch Erdoğan lässt sich in Vilnius feiern und inszeniert sich als der Staatschef, der den Weg zu einer Einigung geebnet hat.
Die jüngste Entscheidung ist damit eine gute Nachricht für den Westen – und eine Ohrfeige für Putin. Doch die Hoffnung, Erdoğan könnte dem Kremlchef nun endgültig den Rücken kehren, ist unberechtigt. Vielmehr zeigen die aktuellen Vorgänge, wie der türkische Präsident tickt.
Was hat Erdoğan bekommen?
So ging das Ringen mit Erdoğan um den schwedischen Nato-Beitritt viele Monate. Hinter den Kulissen sollen vor allem die USA und Deutschland vor dem Gipfel in Vilnius versucht haben, auf die Türkei einzuwirken, wie t-online aus europäischen Diplomatenkreisen erfuhr. Am Sonntag telefonierte US-Präsident Joe Biden mit Erdoğan. Der Druck auf den türkischen Präsidenten wurde groß. So groß, dass er nun eingeknickt zu sein scheint.
Die Vermittlungsversuche waren am Ende erfolgreich. "Unsere gemeinsamen Anstrengungen haben sich gelohnt. Zu 32 sind wir alle zusammen sicherer. Herzlichen Glückwunsch, Schweden", schrieb Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) am Montag auf Twitter.
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Der Nato-Beitritt Schwedens ist auch ein diplomatischer Erfolg für die Bundesregierung. Doch über den Preis ist offenbar Stillschweigen vereinbart worden. t-online erklärt, wo die Türkei Zugeständnisse bekommen haben könnte.
1. EU-Beitrittsprozess der Türkei
Erdoğan hat seine europäischen Nato-Partner erpresst. Er wolle den Weg für Schweden in das Militärbündnis erst frei machen, wenn die Europäische Union der Türkei eine EU-Beitrittsperspektive gibt. "Öffnet erst den Weg für den Beitritt der Türkei zur EU, und dann öffnen wir den Weg für Schweden", erklärte der türkische Präsident noch am Sonntag.
Mit dieser Ansage hat Erdoğan seine Partner wahrscheinlich überrascht. Doch zu Unruhe innerhalb der Europäischen Union kam es nicht. Der Grund dafür: Kaum eine EU-Regierung dürfte dem türkischen Präsidenten abgekauft haben, dass er mit der Türkei wirklich EU-Mitglied werden möchte. Erdoğan gefällt sich in der Rolle des Pendeldiplomaten zwischen EU und Ländern in Asien und dem Nahen Osten. Das gibt ihm Einfluss, den er mit einem EU-Beitritt aufgeben würde.
Entsprechend wären potenzielle EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei zurzeit eher symbolisch.
2. EU-Visaerleichterungen für die türkische Bevölkerung
Schweden rang der türkische Machthaber das Zugeständnis ab, die Türkei auf dem Weg zum EU-Beitritt zu unterstützen. Viel wahrscheinlicher ist allerdings, dass Erdoğan EU-Visaerleichterungen für die türkische Bevölkerung im Blick hat.
Viele Menschen in der Türkei haben Verwandtschaft in EU-Staaten und reisen dementsprechend oft in die Europäische Union. Die Möglichkeit, leichter an Visa zu kommen oder gar keine mehr zu benötigen, wäre eine spürbare Erleichterung für viele Türkinnen und Türken. Auch deshalb hat die Opposition im türkischen Wahlkampf genau damit geworben. Für Erdoğan wäre es ein politischer Erfolg, wenn er ebendies umsetzen könnte. Bisher plant die EU allerdings keine Visaerleichterungen.
3. F-16-Kampfflugzeuge aus den USA
Die türkische Luftwaffe ist auf Unterstützung aus den USA angewiesen. Nachdem die türkische Regierung im Jahr 2019 den Kauf von russischen S-400-Flugabwehrsystemen beschlossen hatte, wurde das Land aus dem amerikanischen F-35-Kampfflugzeugprogramm ausgeschlossen. Nun zielt Erdoğan auf F-16-Flugzeuge – und wird vielleicht erhört.
US-Präsident Joe Biden will nach Angaben seines nationalen Sicherheitsberaters Jake Sullivan den Verkauf von F-16-Kampfjets an die Türkei vorantreiben. Biden habe seit Monaten klargemacht, dass er den Verkauf der Maschinen an die Türkei unterstütze, sagte Sullivan in der litauischen Hauptstadt Vilnius. Die USA betonen zwar oft, dass ihre F-16-Entscheidung kein Zugeständnis für die Aufgabe von Erdoğans Blockade werden solle. Schließlich will die Biden-Administration den Eindruck verhindern, dass sie sich von der Türkei erpressen lässt. Aber natürlich sind die F-16 auch Verhandlungsmasse.
4. Terrorbekämpfung in Schweden
Schweden ist Erdoğan entgegengekommen, indem es seine Antiterrorgesetze verschärft hat und nun die kurdische Terrororganisation PKK ins Visier nimmt. Das ist allerdings kein neues Zugeständnis. Die Terrorbekämpfung war bereits Bestandteil der Einigung beim Nato-Gipfel 2022 in Madrid, der den Beitrittsprozess von Schweden und Finnland ebnete.
In der Türkei sieht eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung den schwedischen Umgang mit der PKK kritisch und Erdoğan konnte dies nicht ignorieren. Vielmehr sagte Schweden außerdem zu, Schritte zu unternehmen, um die Koran-Verbrennungen im Land zu unterbinden. Auch das kann der türkische Präsident innenpolitisch als Erfolg für sich verkaufen und sich gleichzeitig als Verteidiger des muslimischen Glaubens inszenieren.
Putin verliert
Doch unabhängig davon, wie teuer das Ende von Erdoğans Blockade am Ende für die Nato war, fest steht eines: Es ist ein schwerer Schlag für Wladimir Putin im Kampf mit dem Westen.
Die Nato schließt nun ihre Norderweiterung ab, ein Szenario, das Putin eigentlich hatte verhindern wollen. Erdoğan hat die weitere Expansion des Militärbündnisses ermöglicht, aber das ist nur die jüngste Provokation aus Ankara an Moskau.
Schon am vergangenen Samstag empfing Erdoğan den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in der Türkei. Doch damit nicht genug: Er sagte der ukrainischen Armee weitere Drohnen und Panzerhaubitzen vom Typ "Fırtına" zu – mindestens 70, heißt es aus Sicherheitskreisen.
Zudem erklärte der türkische Präsident, dass die Ukraine in die Nato gehöre, was Putin verärgert haben dürfte. Und dann ließ die Türkei auch noch Offiziere des Asow-Regiments in die Ukraine fliegen, die – so war es vereinbart zwischen Kiew und Moskau – eigentlich bis zum Kriegsende in der Türkei bleiben sollten.
Nato hat kaum Grund zum Aufatmen
All das ist eine Kampfansage von Erdoğan an Putin. Schließlich hatte Russland den türkischen Langzeitpräsidenten im Wahlkampf unterstützt und der Türkei in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise billig Gas verkauft. Nun ist Putin auf die Nase gefallen.
Und er ist wütend, das zeigen die Reaktionen aus Moskau am Wochenende. "Die Rückkehr der Asow-Kommandeure aus der Türkei in die Ukraine ist nichts anderes als ein direkter Verstoß gegen die bestehenden Vereinbarungen", sagte Putins Sprecher Dmitri Peskow am Sonntag. "Wir sind darüber nicht informiert worden." Außerdem droht der Kreml mit "negativen Konsequenzen" für die Türkei wegen der erneuten Waffenlieferungen.
Doch es ist unwahrscheinlich, dass Erdoğan sich von russischen Drohungen beeindrucken lässt. Der türkische Machthaber sieht sich in einer stärkeren Position als der Kremlchef und denkt, dass er sich die Spitzen gegen Russland leisten kann, weil Putin ihn braucht und die Türkei geopolitisch wichtig ist. Er glaubt, es sich leisten zu können, Staaten vor den Kopf zu stoßen.
Darüber freut sich momentan der Westen, doch eines ist klar: Erdoğan ist unberechenbar und in der nächsten Krise könnte es wieder umgekehrt laufen. Die Nato hat nun über ein Jahr gebraucht, um den türkischen Präsidenten vom Nato-Beitritt Schwedens zu überzeugen. Das ist auch ein Warnsignal für das Militärbündnis.
- sueedeutsche.de: "Erdoğans Spiel"
- br.de: "Erdoğan: Ukraine verdient Mitgliedschaft in der Nato"
- merkur.de: "Erdogans Teufelspakt: Warum Putin ihm die Türkei-Wahl retten könnte"
- spiegel.de: "Biden stellt Erdoğan Kampfjet-Lieferung in Aussicht"
- fr.de: "'EU-Mitgliedschaft ist nicht erpressbar': Empörung über Erdogans Nato-Deal"
- spiegel.de: "Erdoğan, unberechenbar"
- Eigene Recherche