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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Krise in der russischen Armee Kreml zeigt Video – General bleibt wohl doch im Amt
Erst hieß es, der russische Armeechef in der Ukraine sei abgesägt worden – nun zeigt der Kreml ein Video mit Waleri Gerassimow. Was ist dran an der möglichen Personalrochade?
Die Nachricht verbreitete sich am Wochenende rasant – und warf zunächst viele Fragen auf: Hat Wladimir Putin zum fünften Mal seinen Armeechef für die Ukraine ausgewechselt? Schon wieder?
Und wenn ja, warum sollte ausgerechnet ein gewisser Michail Teplinski übernehmen, ein Kommandeur, der dem abgetauchten Wagner-Warlord Jewgeni Prigoschin nahesteht? Spätestens da waren die Spekulationen um einen weiteren Umbau in der russischen Armeespitze erneut im Gange.
Jetzt aber hat Moskau mit einem bemerkenswerten Schritt reagiert. Das Verteidigungsministerium veröffentlichte am Montagnachmittag ein Video, das wohl dazu dienen soll, das Ganze herunterzuspielen.
Es zeigt den Armeeverantwortlichen für die Ukraine, Waleri Gerassimow, bei der Arbeit: Er leitet eine Besprechung und lässt sich über die Lage an der Front informieren. Die Sitzung habe am Sonntag stattgefunden, verkündet das Ministerium. Die Botschaft nach außen ist klar: Von Amtsenthebung kann keine Rede sein.
Doch näher betrachtet ist die russische Armeespitze von Normalität weit entfernt. Die Militärführer Russlands stehen auch zwei Wochen nach der Wagner-Rebellion erheblich unter Druck. Und mit ihnen auch der offizielle Oberbefehlshaber der Armee, Wladimir Putin.
Gerassimow war zwei Wochen verschwunden
Auf wenige Hundert Kilometer waren die Wagner-Kämpfer weitgehend ungehindert an Moskau heranmarschiert. Seitdem wird in russischen und westlichen Medien gemutmaßt, wer Sympathisant der Privatarmee von Prigoschin sein und ihm dabei geholfen haben könnte.
Offiziell entlassen wurde aus der Armeespitze seitdem zwar niemand. Doch einige Militärs tauchten lange nicht in der Öffentlichkeit auf, sodass von manchen angenommen wurde, sie seien festgenommen worden.
Auch Gerassimow tauchte länger nicht mehr auf. Ebenso fehlt vom Oberbefehlshaber der Luft- und Raumfahrtstreitkräfte, Sergej Surowikin, bis heute jede Spur. Auffällig bei ihm: Er war laut russischen Journalisten auch am Sonntag bei besagter Sitzung nicht anwesend.
Nexta, ein Nachrichtenportal für Osteuropa, meldet, dass eigentlich Surowikin den Lagebericht zur Ukraine hätte vorstellen müssen. Das aber übernahm sein Stellvertreter, Generaloberst Wiktor Afsalow. Eine Nichtregierungsorganisation will Surowikin per Brief in einem Untersuchungsgefängnis erreicht haben, doch offizielle Erklärungen zu dessen Verbleib gibt es nicht. Surowikin ist ein in Russland angesehener Militär, gilt aber als Prigoschin-nah. Mehr zu seinen Verwicklungen im Wagner-Aufstand lesen Sie hier.
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Und dann ist da noch der stellvertretende Verteidigungsminister Junus-Bek Jekurow. Auch er ist seit Wochen nicht mehr gesichtet worden. Letzte Informationen über seinen Verbleib stammen vom Wochenende des Aufstands, wo er mit Prigoschin unterwegs und abgelichtet worden war. Vermutungen, er sei abgetaucht oder abgesetzt, wurden bislang ebenfalls nicht bestätigt. Am 3. Juli verpasste er ein Treffen seines Ministeriums.
Nicht zuletzt vergingen auch Tage, bis sich der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu nach dem Aufstand erstmals öffentlich zeigte.
Für all diese Einzelfälle mag es Erklärungen geben. In der Summe aber wird deutlich: Normalität herrscht kaum an der Spitze der Armee – auch wenn der Kreml nun den Anschein erwecken will, dass Gerassimow weder entlassen noch in seinen Aufgaben beschnitten wurde.
Vielmehr deuten Beobachter den Schritt als Zeichen der Nervosität: Zuvor hatte der Kreml den russischen Armeechef für die Ukraine bereits viermal ausgewechselt – das hatte Zweifel an der Funktionsfähigkeit der Armee aufkommen lassen. Diesem Eindruck will Moskau nun offensichtlich vorbeugen – das Video ist ein klares Bekenntnis für den Generalstabschef Gerassimow.
Teplinski genießt hohes Ansehen
Und Teplinski, der bislang wenig in Erscheinung getreten ist? Der Befehlshaber der russischen Luftlandetruppen WDW genießt nicht nur als Militär in Russland hohes Ansehen – er ist auch enger Verbündeter von Jewgeni Prigoschin.
Den Berichten zufolge soll Teplinski auch Surowikin nahestehen. Wäre Prigoschin-Freund Teplinski berufen worden, hätte dies als Zugeständnis an den Wagner-Chef verstanden werden können.
Spekuliert wird weiterhin, ob Gerassimow als Generalstabschef weiter die Gesamtkontrolle über die russischen Streitkräfte und Teplinski nur das Kommando über die Luftlandetruppen des Landes übernommen haben könnte.
Dazu lieferte der Kreml am Montag weder eine Bestätigung noch ein Dementi. Nur spärlich über Personalien zu informieren, ist übliches Vorgehen in Moskau. Dass die Armeespitze derzeit derart häufig diskutiert wird, ist für Putin allerdings gleichermaßen Vor- und Nachteil: Er rückt einerseits die Aufmerksamkeit von der schlecht laufenden "Spezialoperation" in der Ukraine ab. Andererseits zeigt die Unruhe, dass Putin seine Elite auch Wochen nach dem Wagner-Aufstand nicht unter Kontrolle hat.
- function.mil.ru: "Начальник Генерального штаба ВС РФ поставил задачу организовать системную работу по выявлению и уничтожению стартовых позиций ударных средств ВСУ" (russisch)
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