Prigoschin kritisiert Kreml "Sonst sitzen wir mit nacktem Hintern auf dem Frost"
Mit seiner Kritik an der russischen Militärführung hält Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin nicht hinter dem Berg. Nun erhebt er neue Vorwürfe gegen Moskau.
Wenn die ukrainische Offensive beginnt, will die russische Armee bereit sein – und sei es nur, sich aus dem Kampf zurückzuziehen. Bei den Plänen zum Rückzug könnte es allerdings Probleme geben. Jewgeni Prigoschin, Anführer der Söldnertruppe Wagner, wirft der russischen Armee die Verminung von Rückzugswegen vor.
Mitte Mai hätten Soldaten der regulären Armee eine Straße vermint, auf der die Wagner-Söldner sich aus der Stadt Bachmut hätten zurückziehen wollen, erklärte Prigoschin am Sonntag auf Telegram. Außerdem veröffentlichte er ein Dokument, demzufolge es Schusswechsel zwischen Kämpfern seiner Truppe und russischen Soldaten gegeben hat. Unabhängig überprüfen lassen sich die Anschuldigungen nicht.
Prigoschin droht mit Einmarsch in Region Belgorod
Prigoschin kritisiert die russische Armee und deren Führung nicht zum ersten Mal. Nachdem in den vergangenen Tagen und Wochen pro-ukrainische Soldaten der Legion "Freies Russland" und des rechtsextremen Russischen Freiwilligenkorps Teile der russischen Grenzregion Belgorod angegriffen hatte, drohte Prigoschin am Samstag auf Telegram mit dem Einmarsch seiner Söldner.
Das Ministerium müsse in der Region "schleunigst" für Ordnung und Sicherheit sorgen, forderte Prigoschin. Im Verteidigungsministerium herrsche Chaos. "Es läuft dort schon eine Eroberung des Gebiets", sagte Prigoschin zum Kampfgeschehen in Belgorod. "Es sterben friedliche Menschen." Die Bevölkerung brauche Schutz. "Wir werden nicht auf eine Einladung warten."
Allerdings müsse das russische Militär Munition bereitstellen, sagte Prigoschin. "Sonst sitzen wir, wie es heißt, mit dem nackten Hintern auf dem Frost." Die Region steht seit Tagen unter Artilleriebeschuss von ukrainischer Seite – was Kiew zwar bestreitet, anhand von Videos auf Twitter und Telegram allerdings als gesichert gilt. Ortschaften mussten evakuiert werden. Die Behörden ließen Kinder in sichere Regionen bringen.
Wagner-Chef als lauter Kremlkritiker
Niemand in Russland wagt solch harsche Worte wie Prigoschin, der sich zunehmend als Kremlkritiker inszeniert. Oppositionelle, die sich ähnlich äußern, sitzen entweder im Straflager, leben im ausländischen Exil – oder sind tot.
Der Unterschied zu anderen Russen, die sich bei Kritik an der "militärischen Spezialoperation" – wie der Krieg in Russland heißt – im Straflager wiederfinden: Der 62-Jährige ist ein Vertrauter von Präsident Wladimir Putin. Den Kremlchef selbst stellt er – anders als echte Kremlgegner – nie infrage. Wohl deshalb darf er als "Ventil" fungieren.
Tschetschenische Einheit: "Prigoschin soll die Fresse halten"
Nicht allen gefällt das: Vergangene Woche hieß es aus der Armee-Einheit Achmat des tschetschenischen Machthabers Ramsan Kadyrow, Prigoschin beschmutze das Ansehen der Armee. Darauf stehen in Russland hohe Strafen. Weiter hieß es, der Chef Wagner-Gruppe solle die "Fresse" halten.
Achmat-Kämpfer drohten ihm auch Gewalt an. Doch nach einem Telefonat mit Kadyrow erklärte Prigoschin am Samstag den Streit für beigelegt. Den Mund verbieten lasse er sich aber nicht. Ihm gehe es darum, dass die Armee mit Würde und Stolz ihre Aufgaben erfülle – und nicht in einem System von "Speichelleckerei, Kriecherei und Verantwortungslosigkeit" verkomme.
Militärblogger wirft Prigoschin Putschvorbereitung vor
Kritik an Wagner und dessen Chef kommt zudem von Igor Girkin, einem ehemaligen Oberst des Militärnachrichtendienstes GRU und heutigen Militärblogger. Am Sonntag warf Girkin Prigoschin in einem Video vor, eine Meuterei gegen den Kreml vorzubereiten. "Wagner zieht sich schnell in Militärbasen hinter der Front zurück. Die Gefahr eines drohenden Putsches ist eindeutig sichtbar."
Aber nicht nur Prigoschin kritisiert den Krieg des Kreml und die Militärführung: Da Moskau keine militärischen Fortschritte in der Ukraine vorweisen kann, werden auch Politiker in Russland lauter – allerdings nicht, weil sie den Krieg ablehnen, sondern weil sie ihn gewinnen wollen. So beklagte der Parlamentsabgeordnete Konstantin Satulin von der Regierungspartei Geeintes Russland vergangene Woche bei einer Konferenz zum Thema "Welche Ukraine brauchen wir?" Fehler Moskaus und ein Versagen auf ganzer Linie.
Prominenter Politiker schießt gegen Kreml
Die "militärische Spezialoperation" hätte von Anfang "Krieg" genannt werden müssen, meinte Satulin. Es sei eine Fehleinschätzung gewesen, den Krieg innerhalb weniger Tage gewinnen zu können. Kein einziges vom Kreml ausgegebenes Kriegsziel sei umgesetzt: weder eine Entmilitarisierung der Ukraine noch deren Neutralität noch ein besserer Schutz der Menschen im Donbass. "In welchem der Punkte haben wir ein Ergebnis erreicht? In keinem einzigen", sagte Satulin. Er sieht die gesamte Außenpolitik des Kremls in der Sackgasse.
Bisher hat kein Abgeordneter des kremltreuen Parlaments solch harte Kritik öffentlich geäußert. Allerdings ist Satulin insofern auf Kremllinie, als er den Krieg grundsätzlich unterstützt. Er fordert einen nationalen Kraftakt, um den Kampf zu gewinnen. Der Abgeordnete bejahte zudem die Frage, ob die Ukraine als Staat überleben werde. "Weil unsere Kräfte nicht ausreichen, um das zu verhindern – bei solch einer Unterstützung, die sie erhält", meinte er mit Blick auf die westliche Hilfe für die Ukraine.
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa
- themoscowtimes.com: "Wagner Says Ready to Defend Russia's Border Region"
- newsweek.com: "Wagner Head Provoking 'Open War' With Kremlin Forces: Ex-Russian Commander"