Leserbriefe junger Russen "Auf die Verlierer eines Krieges hört niemand"
Propaganda beherrscht die russische Gesellschaft. Ein kritisches russisches Medium hat jetzt Zuschriften junger Russen veröffentlicht – mit erstaunlichem Ergebnis.
Im Westen ist man gegenüber russischer Propaganda abgestumpft. Doch in Russland selbst scheint das Mittel der Manipulation weiterhin zu funktionieren: Abendlich werden in staatsfinanzierten Talkshows Lügen verbreitet und Feindbilder – insbesondere gegen den Westen – geschürt, um von der fehlgeleiteten Politik der russischen Regierung um Staatspräsident Wladimir Putin abzulenken.
Dass ein Großteil der russischen Bevölkerung hinter dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine steht und den Verschwörungsmythen aus dem Kreml noch immer Glauben schenkt, ist daher nicht überraschend. Diejenigen, die Zweifel am offiziellen Narrativ äußern, werden verhaftet oder Schlimmeres. Wie denken also gewöhnliche Russen über den Krieg?
Das oppositionelle russische Nachrichtenportal "Medusa", das regelmäßig kritisch über Putin und den Krieg berichtet, wollte es genauer wissen und rief seine Leser dazu auf, Stellung zur russischen Invasion zu beziehen. Die Zuschriften geben einen seltenen Einblick in die Gedankenwelt meist junger Russen – und zeigen, dass selbst anfängliche Gegner des Krieges diesen nun unterstützen, weil sie die Folgen einer Niederlage fürchten.
"Manchmal sind unpopuläre Entscheidungen die richtigen"
Victoria (28) aus St. Petersburg: "Zunächst war meine Meinung [zum Krieg in der Ukraine] negativ, wie meine Meinung zu allen bewaffneten Konflikten. Aber mit der Zeit, als ich das Ausmaß des Hasses auf Russland und die Russen, die Freude über die Explosion der Krim-Brücke und die aktive Bewaffnung der Ukraine durch den Westen sah, begann ich zu erkennen, dass Russophobie und andere Dinge, die ich früher für dumme Propaganda hielt, nicht nur Lügen sind. Krieg bringt immer Leid mit sich, aber manchmal sind unpopuläre Entscheidungen die richtigen."
"Habe meinen verdammten Verstand verloren"
Anonym (36) aus der russischen Stadt Tjumen: "Ich unterstütze den Krieg nicht im Sinne von 'Z' [das russische Kriegssymbol, d. Red.]. Außerdem habe ich am 24. Februar [2022] meinen verdammten Verstand verloren. Als Einwohner Russlands glaube ich, dass es zwar ein Fehler war, Truppen in die Ukraine zu schicken, dass es aber ein Verbrechen wäre, sie abzuziehen."
"Ich habe nicht die Absicht, in den nächsten 20 Jahren Reparationen für die Fehler anderer zu zahlen. Auf die Verlierer eines Krieges hört niemand. Dennoch werde ich selbst nicht zu den Waffen greifen. Man könnte sagen, ich bin ein Beobachter, der die Ukraine nicht unterstützt. Ich war vor der Maidan-Revolution im Jahr 2014 dutzende Male dort und weiß, wie sich die Stimmung und die Gesetze in der Ukraine verändert haben. Wenn dort ein europäischer Staat aufgebaut wird, dann ist das ähnlich wie in Spanien unter der Führung des Diktators Franco oder in Salazars Portugal; nicht anders als im heutigen Russland Putins."
Krieg zur strategischen Absicherung
Murad (28) aus Moskau: "Trotz der Tatsache, dass unsere Regierung korrupt und ineffektiv ist, stellt die Ukraine eine Gefahr für unsere Südgrenze dar. Wenn wir die Schwarzmeerflotte nicht auf der Krim haben, verlieren wir unseren Einfluss auf das Schwarze Meer und den Kaukasus."
"Von 2014 bis 2022 haben alle ukrainischen Regierungen ausdrücklich erklärt, dass sie die Krim und ihre östlichen Gebiete mit Gewalt oder auf diplomatischem Wege zurückerobern würden. Das ist eine direkte Drohung. Zum Vergleich: Jedes europäische oder US-amerikanische Land würde ohne zu zögern Gewalt anwenden, wenn es eine Bedrohung durch seine Nachbarn verspürt. Ich betrachte ihre derzeitige Rhetorik als eine Politik der Doppelmoral."
Nationale Demütigung abwenden
Andrey (35) aus Wolgograd: "Ein Krieg endet, wenn eine Seite gewinnt. Eine Niederlage Russlands würde eine nationale Demütigung bedeuten, das können wir nicht zulassen. Deshalb müssen wir gewinnen – wir haben keine andere Wahl mehr. Die Ukraine ist nicht auf der Suche nach Frieden. Sie verlangt nur nach mehr Waffen und will russische Städte bombardieren. Es ist zu viel Blut geflossen, als dass wir einfach sagen könnten: 'Danke an alle, Zeit, getrennte Wege zu gehen'".
Angst vor dem Zerfall Russlands
Dimitry (35) aus Moskau: "Am Anfang war ich konsequent gegen den Krieg. Aber mit der Zeit hatte ich genug von den Geschehnissen, von der ständigen Angst um mich und meine Freunde, dass ich einberufen werden könnte, wenn ich mich dem Krieg widersetze, und von den ausländischen Medien, die schreiben, dass die Russen etwas gegen das derzeitige Regime und den Krieg unternehmen müssen."
"Mir wurde auch klar, dass sich das Leben in Russland drastisch verschlechtern wird, wenn Russland nicht einen Weg findet, aus dieser Situation herauszukommen, ohne sein Gesicht zu verlieren oder auf der Weltbühne unterzugehen. Es gibt eine Reihe von Beispielen in der Weltgeschichte, die darauf hindeuten (wie zum Beispiel Deutschland)."
"Dennoch ist Krieg immer schlecht und bringt nichts als Blut, Tod und verkrüppelte Schicksale. Die Entscheidung, ihn zu führen, war ein Fehler, das ist eine Tatsache, aber jetzt hat die Situation ein Stadium erreicht, in dem Verlieren keine Option mehr ist."
- meduza.io: "'The only thing worse than war is losing one'Even some of Meduza’s readers support the invasion of Ukraine. We asked them to explain why."