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Zum journalistischen Leitbild von t-online.G7-Gipfel in Japan Das Messer zwischen den Zähnen
Die G7-Staaten diskutieren in Hiroshima über den Umgang mit China und Russland. Vor allem die Maßnahmen gegen Wladimir Putin sollen verschärft werden. Es droht aber auch Streit.
Er hofft inständig auf einen Besuch von Olaf Scholz. Chefkoch Mitsuo Ise hat in seinem Restaurant extra für den Besuch des Bundeskanzlers am Freitag eine neue Spezialität kreiert, eine "Deutschland"-Version der lokalen Spezialität Okonomiyaki.
Das ist eine Art japanische Pizza, die der Japaner mit "typisch deutschen" Zutaten kombiniert: mit Kartoffeln, Würstchen, Sauerkraut und Senf. Damit möchte er den SPD-Politiker am Rande des G7-Gipfels überraschen. "Sollte es sich ergeben, dass der Bundeskanzler Scholz-san kommen kann, möchte ich, dass er das isst", sagte der Koch der Deutschen Presse-Agentur (dpa).
Dass der Bundeskanzler beim G7-Gipfel in Japan Zeit für Restaurantbesuche finden wird, ist allerdings unwahrscheinlich. Die Agenda der sieben Industrienationen ist gut gefüllt, einige Themen sind zudem schwere Kost: Es geht um weitere Strafmaßnahmen gegen das Regime von Wladimir Putin und gegen Länder, die Russland dabei helfen, Sanktionen zu umgehen. Neben dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine wird vor allem ein Thema im Fokus stehen: der Umgang mit China.
Die G7-Staaten sind im Krisenmodus und rüsten im Angesicht des russischen Angriffskrieges die Ukraine auf – zuletzt haben sie ihr weitere große Waffenpakete zugesichert. Der Druck auf Putins letzte Verbündete wurde zudem erhöht. Nach außen geben sich die Bündnispartner geschlossen. Doch beim Gipfel in Japan droht in einigen Punkten auch Streit.
Hiroshima – Ein Mahnmal der Geschichte
Japans Ministerpräsident Fumio Kishida hat den Tagungsort des dreitägigen Gipfels daher sehr bewusst ausgewählt: Hiroshima ist eine Stadt mit gewaltiger Symbolik, besonders für die Vereinigten Staaten. Auf dem Programm steht am Freitag auch ein Besuch des dortigen Friedensmuseums, das an den ersten Atombombenangriff der Geschichte 1945 erinnert.
Über dem Zentrum der japanischen Stadt hatte der US-Bomber "Enola Gay" am Morgen des 6. August 1945 eine Atombombe mit dem Namen "Little Boy" abgeworfen. Eine zweite Bombe traf drei Tage später Nagasaki. Es waren die ersten Atomwaffenangriffe der Kriegsgeschichte – und bislang die einzigen.
Wer sind die G7?
Der G7 gehörten anfangs die sieben größten Industrienationen der Welt an. Heute ist das nicht mehr der Fall: Italien und Kanada sind von China und Indien aus den Top 7 verdrängt worden. Die Wirtschaftskraft gilt aber heute ohnehin nicht mehr als wichtigstes Bindeglied zwischen den Mitgliedstaaten. Die gemeinsamen Werte der sieben Demokratien gewinnen angesichts des wachsenden Wettstreits mit Autokratien wie China und Russland an Bedeutung.
In Hiroshima starben unmittelbar nach dem Bombenabwurf mehr als 70.000 Menschen, bis Ende 1945 waren es schon 140.000. Die genaue Opferzahl wird sich nie ermitteln lassen, weil viele den Spätfolgen der Strahlung erlagen. Somit werden auch die G7 am Freitag erneut daran erinnern, was passieren kann, wenn die Diplomatie verliert.
Russland, China, Klimakrise und Hungersnöte
Denn auch heute, 77 Jahre nach dem Atombombenabwurf über Hiroshima, steht die Welt an einem Scheideweg. Der russische Präsident Wladimir Putin hat wieder Krieg nach Europa gebracht und unverhohlen mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht. Die internationale Staatengemeinschaft steuert auf eine neue bipolare Weltordnung zu – die USA und ihre Verbündeten auf der einen, Russland und China auf der anderen Seite.
Das stellt die internationale Gemeinschaft vor enorme sicherheits- und wirtschaftspolitische Herausforderungen. Auch deshalb werden der Umgang mit China und Russland den diesjährigen G7-Gipfel dominieren. Die Themen beim G7-Gipfel in Hiroshima im Überblick:
1. Druck auf Putin: Neue Sanktionen und "Rohstoffklub"
Die G7-Staats- und Regierungschefs planen auf ihrem Gipfel in Japan, die Sanktionen gegen Russland zu verschärfen. Neue Maßnahmen zielten auf Energie und Exporte, die Moskaus Kriegsanstrengungen unterstützen, sagten Beamte mit Kenntnis der Gespräche der Nachrichtenagentur Reuters.
Es ist allerdings noch offen, welche Sanktionen gegen Russland verschärft werden können – darüber sind sich zum Beispiel die USA und die Europäer bislang nicht einig. Die USA haben kurz vor Gipfelstart ein neues Paket an Sanktionen angekündigt. Geplant sei unter anderem, etwa 70 Unternehmen und Organisationen aus Russland und anderen Ländern von US-Exporten abzuschneiden, sagte ein hochrangiger US-Regierungsvertreter. Außerdem sollen mehr als 300 Einzelpersonen, Unternehmen und Organisationen, Schiffe und Flugzeuge mit anderen Strafmaßnahmen belegt werden.
Im Gespräch ist auch ein "Rohstoffklub". Neben den G7 sollen dabei weitere westliche Staaten wie Australien und Südkorea sowie rohstoffreiche Länder aus Asien, Lateinamerika oder Afrika einbezogen werden.
Die Klubmitglieder sollten unter anderem ihre Erkenntnisse über Bedarf, Vorkommen und mögliche Knappheiten strategischer Rohstoffe austauschen und beim Handel auf Exportbeschränkungen oder Zölle verzichten. Die Idee wird in Japan diskutiert werden.
2. Schließung von Sanktionsschlupflöchern
Wie auch bei den derzeit diskutierten neuen EU-Sanktionen gegen Russland geht es auch beim G7-Treffen darum, wie das Umgehen von Sanktionen durch Drittländer vermieden werden kann. Die US-Regierung fordert statt einer Negativliste für Exporte nach Russland eine Positivliste: Ein allgemeines automatisches Ausfuhrverbot wäre die Folge, ausgenommen wären nur Warengruppen, die explizit genannt werden. Diese Änderung könnte es Moskau erschweren, Lücken in den Sanktionsregelungen zu finden, argumentiert die Regierung in Washington.
Der Ansatz der USA wird jedoch von einigen kritisch gesehen – etwa von Berlin, aber auch anderen G7-Hauptstädten. "Der diskutierte Ansatz 'Wir verbieten erst einmal alles und lassen Ausnahmen zu' wird aus unserer Sicht nicht funktionieren", heißt es in deutschen Regierungskreisen. "Wir wollen unbeabsichtigte Nebenwirkungen vermeiden." Hintergrund dürfte sein, dass aus Europa deutlich mehr Güter nicht sanktionierter Branchen – von Medikamenten bis Nahrungsmittel – nach Russland exportiert werden als aus den USA.
Kanzler Olaf Scholz lehnt zum Beispiel US-Vorschläge für ein generelles Exportverbot für Russland ab. "Wir müssen etwas tun, was die Umgehung (von Sanktionen) schwerer macht, als das heute der Fall ist", sagte er am Mittwoch am Rande des Europarat-Gipfels in Reykjavik. "Wir versuchen da eine gute, pragmatische Weiterentwicklung voranzubringen."
Allerdings rätseln auch die Europäer, wie sich am besten verhindern lässt, dass Sanktionen umgangen werden. So will die EU aktiv mit Ländern reden, aus denen Firmen auf EU-Sanktionslisten aufgeführte westliche Waren importieren, um sie dann nach Russland weiterzuverkaufen. Dazu zählen etwa die Türkei, Kasachstan oder Armenien.
3. Gespräche über Kampfflugzeuge für die Ukraine
Natürlich wird auch darüber gesprochen, wie die Ukraine weiterhin in ihrem Verteidigungskampf unterstützt werden kann. Großbritannien, Frankreich und Deutschland haben bei der Europareise des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj große Waffenpakete zugesagt. Zudem haben die Briten angekündigt, eine Kampfflugzeug-Allianz gründen zu wollen.
Bisher werden keine Kampfjets westlicher Bauart an die Ukraine geliefert, das könnte sich mittelfristig ändern. Dabei steht die F-16 im Fokus – einer möglichen Lieferung an Kiew müssten jedoch die Amerikaner zustimmen. Biden lehnt das bisher ab. Auch Scholz sieht Deutschland nicht in der Pflicht. "Im Hinblick auf uns sind keine Anforderungen da".
4. Umgang mit China – Kritik, aber keine Entkoppelung
Bei China dreht sich angesichts der Spannungen im Taiwan-Konflikt alles um die Frage, wie die G7-Mitglieder unabhängiger von der zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt werden können. Besonders zwischen Gastgeber Japan und der Volksrepublik gibt es seit Langem Spannungen, vor allem um eine von Japan kontrollierte Inselgruppe, die beide Länder für sich beanspruchen. Die umstrittenen Inseln werden in Japan Senkaku genannt, China bezeichnet sie als Diaoyu-Inseln. Tokio hatte öffentlich gegen die Präsenz chinesischer Schiffe nahe der Inselgruppe und in weiteren Regionen protestiert.
Die G7 und besonders die USA werden in Hiroshima ihre Solidarität mit den Ländern in der Region bekunden, die ihre Souveränität durch Peking gefährdet sehen. Das chinesische Außenministerium erklärte am Dienstag, dass Japan davon besessen sei, zu provozieren und die Blockkonfrontation zum Schaden der Region anzuheizen.
Der G7-Gipfel wird nach Angaben aus deutschen Regierungskreisen intensiv über den Umgang mit China diskutieren, aber keine "Anti-China-Allianz" schmieden. Die USA fordern schon länger ein härteres Vorgehen gegenüber China, die Europäer lehnen das mit Blick auf die eigenen wirtschaftlichen Interessen ab. Auch die Entkoppelung der Wirtschaft von Russland ist für Europa schmerzhafter als für die Vereinigten Staaten.
Insgesamt seien sich die Bündnispartner aber in dieser Frage einiger, als es in der Öffentlichkeit manchmal scheine, sagte ein Regierungsvertreter am Donnerstag in Berlin. So wolle niemand eine Abkoppelung der Wirtschaft von China. Ob in der G7-Abschlusserklärung am Ende das Wort "De-Risking" auftauche oder von Diversifizierung die Rede sei, müsse man abwarten.
In Bezug auf China gab es zuletzt auch positive Signale: Anfang Mai hatten sich der Nationale Sicherheitsberater des Weißen Hauses, Jake Sullivan, und Chinas höchstrangiger Außenpolitiker Wang Yi zu Gesprächen in einem Hotel in Wien getroffen. Auch Peking und Tokio haben einen direkten Draht über ein Militärtelefon. Der Westen sieht, dass Xi Jinping Putin noch nicht mit Waffen unterstützt und wartet das Ergebnis der chinesischen Friedensbemühungen in der Ukraine ab.
Weitere Themen im Schatten
Darüber hinaus geht es beim G7-Gipfel auch um den Kampf gegen die Klimakrise und gegen Hungersnöte. Es wird ferner um die wirtschaftliche Entwicklung von Entwicklungsländern gehen. Die sieben reichen Industrienationen (G7) schulden den armen Staaten nach Schätzungen der Entwicklungsorganisation Oxfam rund 13 Billionen US-Dollar an nicht geleisteter Entwicklungshilfe und Unterstützung im Kampf gegen den Klimawandel. Diese Themen sind wichtig, sie stehen angesichts der Ukraine-Krise aber erneut etwas im Schatten.
Es wird also vor allem darum gehen, pragmatische Lösungen zu finden. Daran ist auch der US-Präsident interessiert. Eigentlich passt der Gipfel aktuell nicht in seinen Terminplan, denn in Washington eskaliert mal wieder der US-Schuldenstreit. Sogar eine Absage Bidens war im Gespräch.
Er kommt nun auf jeden Fall nach Japan, hat aber die im Anschluss geplante Australienreise abgesagt. Direkte Gespräche sind für die strittigen Punkte besonders wichtig. Auch Scholz wird also in Japan persönlich mit Biden zusammenkommen. Vielleicht ja doch auch in einer japanischen Pizzeria?
- Eigene Recherche
- times.com: The G7 Summit in Hiroshima Is a Test of Japan’s Peace-Brokering Power (engl.)
- zdf.de: China muss UN-Regeln einhalten
- focus.de: Australien sagt Treffen der Quad-Staaten ab
- tagesschau.de: Das "Krisenteam" berät in Japan
- rnd.de: G7-Staaten "schulden" armen Ländern 13 Billionen US-Dollar
- zeit.de: Mehr Asien wagen!
- gloabaltimes.cn: Chinese FM says Japan obsessed with creating bloc confrontation (engl.)
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa, afp und rtr