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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Baerbock und Faeser im Katastrophengebiet "Es hat einem das Herz zerrissen"
Das Erdbeben hat viele Menschen traumatisiert. Mit ihrem Besuch in der Türkei möchten Annalena Baerbock und Nancy Faeser ein Zeichen setzen – und erleben selbst einen Schreckensmoment.
Trümmer überall und Menschen auf den Straßen: Im Zentrum von Pazarcık im Südosten der Türkei sind etliche Gebäude zusammengebrochen. Wo vor dem Erdbeben noch Mehrfamilienhäuser standen, ist oft nur noch ein großer Trümmerhaufen übrig. Scherben liegen auf der Straße verteilt, eine dicke Staubschicht hat sich über alles gelegt. In den Trümmern sind Alltagsgegenstände wie Schuhe oder Kinderspielzeug zu sehen.
Sie sind ein Symbol des Dramas, das sich hier am 6. Februar abspielte: Das Beben riss viele Menschen in der Türkei und in Syrien aus dem Schlaf. Wer konnte, verließ Hals über Kopf sein Zuhause, um nicht darunter begraben zu werden.
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Mit ihrem Besuch im türkischen Teil der Katastrophenregion wollten sich Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und Innenministerin Nancy Faeser (SPD) am Dienstag ein Bild von der Lage machen, um Hilfe künftig besser koordinieren zu können. Und eines wird vor Ort sofort klar: Die Erdbebenopfer brauchen dringend weitere internationale Unterstützung. Die Menschen in der Region sind traumatisiert, die Angst vor einem Nachbeben ist groß. Zu Recht, wie auch die Ministerinnen vor Ort schockiert feststellen müssen.
"Es hat einem wirklich gerade das Herz zerrissen"
In der Krisenregion fahren Baerbock und Faeser zunächst in die Zeltstadt von Pazarcık. Hier lag das Epizentrum der ersten Erdstöße. Insgesamt starben durch die Naturkatastrophe schon mehr als 48.000 Menschen, davon mehr als 42.000 in der Türkei. Aber das sind nur die offiziellen Zahlen. In beiden Ländern werden noch zahlreiche Menschen unter den Trümmern vermutet. Experten rechnen mit viel höheren Opferzahlen.
Für viele Türkinnen und Türken ist der Besuch der Ministerinnen ein wichtiges Symbol. In Pazarcık werden Baerbock und Faeser von einer riesigen Menschentraube empfangen, viele türkische Journalisten sind vor Ort. Die Ministerinnen hören sich in dem Zeltlager die Geschichten der Erdbebenopfer an, suchen nach den richtigen Worten. "Man spürt an jedem Ort, wie dieses Beben noch in den Menschen im wahrsten Sinne des Wortes drinsteckt", sagt Baerbock. Not kenne keine Nationalitäten. Faeser ergänzt: "Wir haben furchtbares Leid hier erleben müssen. Es hat einem wirklich gerade das Herz zerrissen."
In dem Lager der Katastrophenschutzbehörde Afad leben durchschnittlich acht Menschen in einem der kleinen weißen Zelte. Sie haben entweder ihr Zuhause durch die Naturkatastrophe verloren, oder sie haben Angst, dass ihr Haus oder ihre Wohnung durch ein Nachbeben zusammenbrechen könnte. In dem Zeltlager finden sie vor allem medizinische Versorgung und etwas Sicherheit.
Viele Erdbebenopfer erleiden Trauma
Die Furcht ist nicht unbegründet, immer wieder kommt es nach den großen Erschütterungen auch zu weiteren kleineren Beben. Auch während die Ministerinnen vor Ort sind, bebt erneut leicht die Erde. Was für die deutsche Delegation kaum merkbar ist, lässt die Menschen in der Zeltstadt erstarren. Erst am Montagabend zuvor hatte es in der Provinz Hatay ein Nachbeben gegeben, bei dem sechs Menschen starben.
Der Schock nach dem Erdbeben sitzt noch immer tief. So tief, dass Familien in ihren Autos und auf der Straße leben. In den kalten Nächten setzen sie sich um Fässer, in denen sie Feuer machen. Auch in der Zeltstadt in Pazarcık gibt es kaum Generatoren. Viele Familien schlagen Holz, um ihre Zelte mit kleinen Holzöfen beheizen zu können. Sie schlafen auf dem Boden, müssen ihre Zelte aber regelmäßig lüften, um keine Rauchvergiftung zu erleiden.
Die häufigsten Beschwerden – vor allem bei Kindern – seien Atemwegserkrankungen, sagte die Chirurgin Hansi Sobez, die für die deutsche Hilfsorganisation Humedica in dem Camp arbeitet. Die Nächte sind im Südosten der Türkei noch extrem kalt, die Menschen leiden unter Husten und Schnupfen. Aber vor allem haben viele Angehörige, Freunde oder Bekannte bei dem Erdbeben verloren. "Wir sind da, wir sprechen mit den Menschen, halten Hände", meint Sobez, die auch eine Weiterbildung in der Betreuung von Traumapatienten absolviert hat. Sie erzählt von einem Vater, der seinen 18 Jahre alten Sohn bei den Beben verloren hatte und nicht weiterleben wollte.
Nur die Spitze des Eisbergs
Bei all dem Schrecken wird eines deutlich: Pazarcık ist nur eine Stadt von vielen, und das, was die Politikerinnen aus Deutschland dort erfahren, nur eine Momentaufnahme des Leids und der Zerstörung. Passanten zeigen der deutschen Delegation immer wieder Handyvideos von den Zerstörungen in anderen Städten der Region.
Doch während in der Türkei zumindest Hilfen schnell eintrafen, blieben in Syrien die Grenzen zunächst dicht. Machthaber Baschar al-Assad ließ sogar die vom Erdbeben betroffenen Rebellengebiete weiter bombardieren. Für Assad leben dort Menschen, die er ohnehin loswerden möchte. Deswegen fordern die Betroffenen nicht nur internationale Hilfe, sondern auch Druck auf das syrische Regime.
Die türkische Regierung dagegen hat weitere Hilfe von der Europäischen Union angefordert. Der Zeitpunkt des Besuches von Baerbock und Faeser ist eng mit der Regierung abgestimmt. Früher wollten die Ministerinnen nicht in die Krisenregion kommen, denn der Trubel um den Besuch hätte die Rettungsarbeiten behindert.
Nun kommen Baerbock und Faeser nicht mit leeren Händen. Deutschland verdoppelt die Finanzhilfe für die Erdbebenopfer im türkisch-syrischen Grenzgebiet. Die Bundesregierung stelle zusätzlich 50 Millionen Euro zur Verfügung, kündigen sie an. Außerdem sagen sie den Betroffenen bestmögliche akute Hilfe und anhaltende Unterstützung beim Wiederaufbau zu. "Unser Mitgefühl erschöpft sich nicht in Worten und es wird auch nicht nachlassen, wenn die Katastrophe und ihre Folgen in den Nachrichten von anderen Schlagzeilen verdrängt werden", verspricht Baerbock, als die beiden Ministerinnen sich am Nachmittag ein Bild von den Zerstörungen in Pazarcık machen.
Deutschland hilft
Deutschland tut viel, um zu helfen. Nach dem Erdbeben schickte die Bundeswehr über 340 Tonnen Hilfsmaterial in die Türkei. Darunter seien 100 Zelte, 400 Feldbetten und mehr als 1.000 Schlafsäcke, sagt Faeser. Diese Hilfe ist ein wichtiges Symbol für die türkisch-deutschen Beziehungen, die in den vergangenen Jahren in einigen politischen Fragen nicht immer einfach waren.
Die Erdbebenkatastrophe hat diese Probleme zunächst einmal beiseite gewischt. Vorerst, denn die Türkei kämpft noch immer mit einer Wirtschafts- und Währungskrise. Immer mehr Türkinnen und Türken sehen die Hilfe für syrische Flüchtlinge kritisch, selbst die Opposition möchte den Flüchtlingsdeal mit der EU nachverhandeln. Das Erdbeben könnte diese Probleme noch einmal verschärfen.
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Doch im Moment geht es um Solidarität mit den Erdbebenopfern. Die letzte Station ihrer Reise ist das wiedereröffnete Visa-Annahmezentrum von Gaziantep und ein neuer Visa-Annahmebus. Erdbebenopfern soll mit Drei-Monats-Visa ermöglicht werden, übergangsweise bei nahen Angehörigen in Deutschland unterzukommen. Baerbock und Faeser informieren sich über Abläufe und Probleme bei den Prozessen. Fazit: Die Bearbeitung der Visaanträge könnten zwar noch schneller laufen, aber die Bundesregierung scheint zufrieden mit dem Start des Projektes.
In Gaziantep ist auch Tarik Köskeroglu vor Ort. Der 35-Jährige lebt mit seiner Familie im Sauerland, seine Eltern allerdings in der Provinz Hatay im Südosten der Türkei. Sie haben durch das Erdbeben ihr Haus verloren, leben seitdem auf der Straße. Köskeroglu hat von seinem Chef Sonderurlaub bekommen, nach der Katastrophe stieg er mit seinem älteren Bruder ins Auto, fuhr 29 Stunden in die Türkei, um zu helfen. Ein Beispiel von vielen für die deutsch-türkische Verbundenheit im Angesicht dieser Katastrophe.
- Begleitung der Reise von Außenministerin Baerbock und Innenministerin Faeser in die Türkei
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa