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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Putin und der Westen "Dann geht es für ihn ans Eingemachte"
Kann es ernsthafte Friedensverhandlungen geben, solange Wladimir Putin im Kreml sitzt? Ja, sagt Sicherheitsexperte Ischinger im Interview und erklärt, warum.
Wolfgang Ischinger gehört zu den herausragenden deutschen Experten für internationale Politik. Im Interview mit t-online spricht er über die Dauer des Krieges in der Ukraine, die Churchill-Qualitäten Selenskyjs und die Frage, ob mit Putin Frieden möglich sein wird.
t-online: Herr Ischinger, lassen Sie sich zu einer Prognose hinreißen: Wie lange hält der Krieg gegen die Ukraine noch an?
Wolfgang Ischinger: Ich würde mich ausnahmsweise sehr freuen, wenn ich falsch liegen sollte. Aber zum Jahreswechsel sehe ich leider kein Kriegsende in Sicht für die kommenden Monate. Da müsste sich schon ein Oster- oder Pfingstwunder ereignen.
Kann es ernsthafte Friedensverhandlungen geben, solange Wladimir Putin im Kreml sitzt?
Ja, durchaus, denn es ist realpolitisch abwegig, wenn manche sagen, man könne oder dürfe mit Putin überhaupt nicht mehr reden. Mit wem sonst soll denn die Ukraine verhandeln, wenn es mal so weit ist? Natürlich will man sich von Putin nach so vielen Lügen und Kriegsverbrechen nicht über den Tisch ziehen lassen. Jede denkbare Vereinbarung müsste verifizierbar sein, da es eine Vertrauensbasis nicht gibt.
Sinnvolle Verhandlungen wird es erst dann geben, wenn Putin einsieht, dass jede Fortsetzung des militärischen Einsatzes zwar noch mehr Opfer erfordert, aber keine weiteren Quadratkilometer an ukrainischem Territorium einbringt. An diesem Punkt ist er aber leider noch lange nicht angelangt.
Zur Person
Wolfgang Ischinger gehört zu den herausragenden deutschen Experten für internationale Politik. Bis 2022 leitete er die Münchner Sicherheitskonferenz, zuvor war Ischinger als Diplomat und nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 als Botschafter in den USA tätig.
Der Krieg sei ironischerweise so schwer zu beenden, weil Putin ihn verloren hat, sagt der britische Historiker Lawrence Freedman. Hat er recht?
Natürlich hat er recht. Nach Putins ursprünglichem Plan sollte der Krieg nach wenigen Wochen mit der völligen Unterwerfung der Ukraine im vergangenen Frühjahr enden, inklusive Siegesparade auf dem Roten Platz in Moskau am 9. Mai. Niemand gibt gerne zu, dass er verloren hat. Putin wird versuchen, das Gesicht nicht ganz zu verlieren. Man habe die Kriegsziele erreicht, wird irgendwann irgendeiner seiner Claqueure behaupten. Ob die Russen Putin das nach 100.000 Gefallenen oder mehr dauerhaft abnehmen werden? Dann kann es für ihn ans Eingemachte gehen.
Russland kann seine ursprünglichen Kriegsziele nicht erreichen. Der Westen rüstet die Ukraine zum Standhalten auf, aber die Ukraine kann ihre maximalen Ziele, inklusive Rückeroberung der Krim und des Donbass, auch nicht erreichen. Daran dürfte sich so schnell nichts ändern. Was folgt aus Ihrer Sicht aus dem Patt?
Wer ein baldiges Kriegsende erreichen und ein weiteres Ausbluten – auf beiden Seiten – verhindern will, muss die Ukraine mit Kriegsgerät so ausstatten, dass sie weitere Geländegewinne erzielen und damit die Rückeroberung besetzter Gebiete, erfolgreich durchsetzen kann –, mindestens bis zur Wiederherstellung der Lage vor dem 24. Februar 2022. Die Ukraine braucht mehr Flugabwehr, aber sie braucht auch mehr Panzer. Westliches Zögern wirkt kriegsverlängernd. Insofern ist von der Führungsstärke, die diese Bundesregierung für sich in Anspruch nimmt, noch nicht sehr viel zu sehen.
Nordkorea liefert Russland Granaten, Iran liefert Drohnen. Die Internationalisierung des Krieges nimmt auch auf Putins Seite zu. Ist dieser Krieg wie ein Perpetuum mobile?
Zum Glück nicht. Die Zahl der Russland-Unterstützer lässt sich ja an einer Hand abzählen. Entscheidend ist und bleibt, dass weder China noch Indien Waffen liefern. Russland ist politisch und geostrategisch weitgehend isoliert. Mit relativ beschränktem Ressourcen-Einsatz hat der Westen der Ukraine dabei geholfen, die russische Militärmaschine um circa die Hälfte zu dezimieren. Wenn das nichts ist! Und die Sanktionsschlinge zieht sich weiter zu. Das sind keine guten Aussichten für Russland im Jahr 2023.
Präsident Selenskyj hat in den USA Eindruck gemacht. Die Medien dort vergleichen ihn mit Churchill, dem imposanten britischen Premier im Zweiten Weltkrieg. Ist Selenskyj auch aus Ihrer Sicht ein kleiner Churchill?
Der Vergleich mit Churchill im Jahr 1941, der damals per Schiff nach Amerika reiste, drängt sich geradezu auf. Auch mit seiner Redegewalt und Kommunikationskunst kann Selenskyj mit dem großen Briten mithalten. Er selber sollte den Vergleich allerdings nicht zu weit treiben, denn erinnern wir uns: Kaum war der Krieg gewonnen, war Churchill seinen Job als Premierminister los!
Die USA sind der entscheidende Machtfaktor für die Ukraine. Präsident Biden hat jetzt das bodengestützte Raketenabwehrsystem Patriot zugesagt. Sollte Deutschland nachziehen?
Ja, sollten wir. Ich fand es schade, dass die USA und Deutschland die Lieferung mit Patriots nicht als gemeinsames Projekt behandelt haben. So zeigt die Diskussion um die Patriots einmal mehr, warum das Vertrauen in die Entscheidungskraft Deutschlands verbesserungsfähig ist. Selenskyj wusste genau, warum er weder nach Brüssel noch gar Berlin reiste, sondern nach Washington.
Kanzler Olaf Scholz’ Argument war bislang: keine deutschen Waffen im Alleingang. Der Umkehrschluss lautet: Was Amerika liefert, kann auch Deutschland liefern. Ist der nächste Schritt Kampfpanzer wie der Leo 2 für die Ukraine?
Kein Alleingang ist ein gutes Argument. Aber die Ukraine braucht modernere Panzer immer dringender. Die Panzerlieferanten sollten ein Konsortium bilden, damit Alleingänge vermieden werden.
Bidens schöner Satz an Selenskyj lautete: "Ihr seid nicht allein, ihr werdet nie allein sein." Liegt darin eine Selbstverpflichtung, an der Bidens Nachfolger, wer auch immer das sein wird, nicht vorbeikommen wird?
In diese Selbstverpflichtung wird vor allem der US-Kongress eingebunden sein. Das ist für die Ukraine im Jahr 2023 entscheidend. Ein großer Erfolg für Selenskyj! Einen Ewigkeitswert hat dieser Satz – wie alles in der Politik – freilich nicht.
Welches Duell zeichnet sich nach Ihrer Erfahrung bei der Präsidentschaftswahl im Jahr 2024 ab?
Für Prognosen ist es zu früh! Wir wissen weder, ob Biden nochmal antritt, noch ob Trump den Platz freiwillig für Ron DeSantis, den Gouverneur von Florida, räumen wird.
Glauben Sie, dass Donald Trump eine ernsthafte Chance auf Wiederwahl besitzt?
Nein. Aber seine erneute Kandidatur würde die amerikanische Demokratie innerlich weiter aushöhlen. Ich hoffe, die Republikaner lernen aus der Geschichte mit diesem Präsidenten.
Kamala Harris als demokratische Kandidatin scheidet aus?
Sie hat bisher wenig beeindruckt. Falls Biden nicht antreten sollte, brauchen die Demokraten die allerstärkste Führungsfigur in ihren Reihen, um gewinnen zu können. Ich habe leise Zweifel, dass Kamala Harris diese Qualitäten hat.
Wenige Deutsche sind so vertraut mit der Weltpolitik der letzten 50 Jahre wie Sie. Wenn Sie nach vorn schauen – wie viel Optimismus können Sie für sich retten?
Kaum ein Land ist von der Zeitenwende so massiv getroffen und zur Umkehr gezwungen wie Deutschland. Die Energiepolitik muss genauso wie manche der lieb gewonnenen außenpolitischen Dogmen völlig neu konzipiert werden. So viel Krise und Konflikt war selten. Dazu der Krieg mit einer Nuklearmacht mitten in Europa! Wir warten alle auf die nationale Sicherheitsstrategie, die rechtzeitig zur Münchner Sicherheitskonferenz im Februar vorgestellt werden soll. Aber ich halte es ganz optimistisch mit Friedrich Hölderlin, der in meiner Heimatstadt Nürtingen aufwuchs: "Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch!"
Herr Ischinger, danke für dieses Gespräch