t-online - Nachrichten für Deutschland
t-online - Nachrichten für Deutschland
Such IconE-Mail IconMenü Icon



HomePolitikAuslandInternationale Politik

Nach Tod von Michail Gorbatschow: Putin führt Propaganda-Schlacht


Nachrichten
Wir sind t-online

Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.

Zum journalistischen Leitbild von t-online.

"Höllisches Schwungrad"
Putin führt Propaganda-Schlacht mit Gorbatschow


Aktualisiert am 31.08.2022Lesedauer: 4 Min.
Player wird geladen
Michail Gorbatschow: In Deutschland galt er als Held. Doch seine prorussische Einstellung sorgte für Aufsehen. (Quelle: t-online)

Michail Gorbatschow war gegen den Überfall auf die Ukraine. Sein Tod kommt Kremlchef Putin nicht ungelegen.

Im Westen und vor allem in Deutschland hat Michail "Gorbi" Gorbatschow Heldenstatus und wird als Symbolfigur für das Ende des Kalten Krieges und der Sowjetunion verehrt. In Russland dagegen gilt Gorbatschow als schwacher Staatsmann, der die UdSSR mutwillig zerstörte und ein Land im Chaos hinterließ – ein Image, das indirekt auch Kremlchef Putin immer wieder bedient.

"Die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts" nannte Putin das Ende der Sowjetunion in einer Fernsehansprache im April 2005. "Für das russische Volk war es eine Tragödie, Millionen unserer Bürger fanden sich plötzlich außerhalb der russischen Grenze wieder", so Putin damals. "Wir wurden ein komplett anderes Land, und was über 1.000 Jahre aufgebaut worden war, ging weitgehend verloren", sagte Putin im Dezember 2021, nur zwei Monate vor dem Überfall auf die Ukraine.

Gorbatschow forderte Ende des Ukraine-Krieges

Öffentlich hat sich Putin nie zu Lebzeiten direkt über Michail Gorbatschow oder Boris Jelzin geäußert, die Kritik an seinen Vorgängern verpackt er gerne in der Erzählung von den "wilden Neunzigern". Viele Russen verbinden das Jahrzehnt mit wirtschaftlicher Not und politischer Instabilität. An diese kollektive Erinnerung appelliert Putin etwa, wenn er von seiner Zeit als Taxifahrer ohne Lizenz in den 90er Jahren erzählt: "Natürlich ist es nicht schön, darüber zu sprechen, aber unglücklicherweise war das damals so", so Putin im Dezember im russischen Fernsehen.

Putins ablehnende Haltung gegenüber Gorbatschow dürfte sich nach dem Überfall auf die Ukraine noch verstärkt haben. Zwei Tage nach dem Angriff, am 26. Februar, forderte Gorbatschow in einer Stellungnahme "ein baldiges Ende der Feindseligkeiten und den sofortigen Beginn von Friedensgesprächen. Nichts auf der Welt ist so wertvoll wie menschliches Leben", schrieb Gorbatschow. Schon im Jahr 2011 hatte Gorbatschow auf einer USA-Reise unmissverständliche Kritik an Putin geäußert: "Staatschefs, die 20 Jahre und länger an der Macht sind, wollen nur an der Macht bleiben, das lässt sich überall beobachten. Und ich glaube, in meinem Land passiert gerade genau das". Allerdings machte Gorbatschow nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014 auch deutlich, dass die ukrainische Halbinsel zu Russland gehöre.

"Verwandlung der Ukraine in eine Nazi-Höhle"

So verwundert es nicht, dass der Kreml Gorbatschows Tod jetzt propagandistisch ausschlachtet, um den Überfall auf die Ukraine zu rechtfertigen. "Michail Gorbatschow kann als Beispiel dafür dienen, dass die guten Absichten eines nationalen Führers in der Lage sind, einem ganzen Land die Hölle auf Erden zu bereiten", schreibt etwa die staatliche russische Nachrichtenagentur Ria Novosti.

"Der Zusammenbruch der UdSSR wurde zu einer nationalen Katastrophe, an deren Folgen wir im vierten Jahrzehnt harken. Irgendwann schien das Schlimmste hinter uns geblieben zu sein. Aber die Verwandlung der Ukraine in eine Nazi-Höhle zeigt, dass das höllische Schwungrad, das vor mehr als dreißig Jahren ins Leben gerufen wurde, seinen Lauf fortsetzt." Mit dem Vorwand einer angeblichen Denazifizierung der Ukraine rechtfertigte der Kreml von Anfang an den Überfall auf das Nachbarland.

Das sagt Wladimir Putin über Michail Gorbatschow

Viel besser kommt "Gorbi" auch im Nachruf der kremlnahen Agentur Tass nicht weg: "Sein Versuch in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, das sozialistische Entwicklungsmodell 'umzubauen', reagierte auf eine starke öffentliche Forderung und weckte große Hoffnungen in der Sowjetunion. Aber diese Hoffnungen erfüllten sich nicht, stattdessen geriet die Sowjetunion in eine tiefe Krise des ideologischen, wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Lebens", heißt es dort. "So bleibt Gorbatschow mit seinem auffälligen Feuermal auf der Stirn in den Augen vieler Landsleute bis heute 'markiert', die Wurzel aller Probleme."

Nikolai Kolomeitsew, der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Kommunisten in der Staatsduma, nannte Gorbatschow gar einen "Verräter, der die UdSSR zerstört" habe: "Ein Präzedenzfall für Verrat von ganz oben. Das ist ein Synonym für Verrat." Der Abgeordnete Oleg Morosow von Putins Partei Einiges Russland macht Gorbatschow sogar unmittelbar verantwortlich für den Krieg in der Ukraine: "Es ist wohl ein mystischer Zufall, dass Gorbatschow ausgerechnet während unserer militärischen Spezialoperation stirbt", zitiert ihn Ria Nowosti. "Er war willentlich oder unwillentlich ein Wegbereiter der ungerechten Weltordnung, die unsere Soldaten jetzt auf dem Schlachtfeld bekämpfen."

"Gorbatschows Naivität und mangelnde Reife"

Die berüchtigte abendliche Talkshow "Spezialausgabe" im größten Staatssender Rossia1 befasste sich vor allem mit den internationalen Reaktionen auf Gorbatschows Tod und blendete dazu die Titelseiten vieler westlicher Zeitungen ein. "Alle unsere Feinde nennen Gorbatschow einen Reformer und einen echten Mann von Welt, der den Rüstungswettlauf in Europa beendete", kommentierte dazu Moderatorin Olga Skabeyeva. Der BBC-Journalist Francis Scarr teilte die Szene mit englischen Untertiteln auf Twitter:

Empfohlener externer Inhalt
X
X

Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen X-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren X-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.

Dann fuhr Skabeyeva fort: "Die chinesische Zeitung ,Global Times' hat dagegen eine andere Sichtweise und betont Gorbatschows Naivität und mangelnde Reife, und dass seine Hingabe an den Westen Russland in politisches und wirtschaftliches Chaos gestürzt habe. Deshalb wird sein Erbe in Russland anders bewertet als im Westen, und zwar fundamental", so Skabeyeva und fügte hinzu: "Doch es wäre wohl unanständig, am Tag seines Todes darüber zu sprechen."

Verfemt ist Gorbatschow in Russland tatsächlich nicht, das zeigen viele Nachrufe oder Äußerungen von Politikern, die seine Leistungen als Staatsmann und seine Errungenschaften als Reformer würdigen. Auch Kremlchef Putin äußerte sich in einer ersten Stellungnahme positiv über Gorbatschow: "Michail Gorbatschow war ein Politiker und Staatsmann, der gewaltigen Einfluss auf den Lauf der Weltgeschichte ausgeübt hat", heißt es in der Mitteilung. "Besonders betonen möchte ich die große humanitäre, wohltätige und aufklärerische Tätigkeit, die Michail Sergejewitsch Gorbatschow all die letzten Jahre ausübte."

Verwendete Quellen
  • reuters.com: Putin rues Soviet collapse as demise of 'historical Russia' (englisch; Stand: 31. August 2022)
  • gorby.ru: Statement of the Gorbachev Foundation (englisch, Stand: 31.August 2022)
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...

ShoppingAnzeigen

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...



TelekomCo2 Neutrale Website