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Ehemaliger Nato-General: "Damit wäre Putins Regime am Ende"


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Ehemaliger Nato-General
"Damit wäre Putins Regime am Ende"


Aktualisiert am 19.07.2022Lesedauer: 7 Min.
Russlands Machthaber Wladimir Putin: Die Ukrainer brauchen dringend Panzer aus dem Westen, warnt der frühere Nato-General Heinrich Brauß.Vergrößern des Bildes
Russlands Machthaber Wladimir Putin: Die Ukrainer brauchen dringend Panzer aus dem Westen, warnt der frühere Nato-General Heinrich Brauß. (Quelle: Sefa Karacan/Anadolu Agenc/dpa)

Die Ukrainer verteidigen sich tapfer, doch der frühere Nato-General Heinrich Brauß warnt: Der Westen muss schnell mehr Waffen liefern, denn Putins Pläne reichen noch viel weiter.

Gewaltige Zerstörungen hat Russlands Armee bei ihrem Vormarsch im Osten der Ukraine angerichtet. Mittlerweile können die Verteidiger mit westlichen Waffen wie der Panzerhaubitze 2000 aus Deutschland zurückschlagen. Das ist aber noch lange nicht genug, um die Invasoren abzuwehren, sagt der ehemalige Bundeswehrgeneral Heinrich Brauß im t-online-Gespräch.

Die Ukraine brauche mehr schwere Waffen, und der Westen müsse sie liefern, das sei in seinem ureigensten Interesse, so Brauß. Warum Deutschlands Streitkräfte in einem derart desolaten Zustand sind, weshalb die Lieferung von Kampfpanzern Wladimir Putin kaum zu einem Atomkrieg verleitet und wovor der Kremlchef zurückschrecken würde, erklärt Brauß im folgenden Gespräch.

t-online: Herr Brauß, die russische Armee ist langsam, aber mit gewaltiger Feuerkraft im Osten der Ukraine vorgerückt. Sollte Deutschland den ukrainischen Verteidigern mehr schwere Waffen liefern, auch angesichts einer befürchteten neuen russischen Großoffensive?

Heinrich Brauß: Ein klares Ja. Die ukrainische Armee verteidigt ihr Land entlang einer 1.200 Kilometer langen Frontlinie. Die bisher gelieferten sieben deutschen Panzerhaubitzen 2000 sind eine wichtige Verstärkung. Aber sie reichen bei Weitem nicht aus. Die Amerikaner liefern modernste Raketenwerfer. Aber die Ukraine braucht weitere schwere Waffen, Kampf- und Schützenpanzer für eine bewegliche Verteidigung und wirkungsvolle Gegenangriffe.

Warum schickt Deutschland dann nicht schnell mehr schwere Waffen?

Wir sehen gegenwärtig zwei Entwicklungen: Zum einen ist seit dem G7-Treffen im bayerischen Elmau und dem Nato-Gipfel in Madrid die Entschlossenheit gewachsen, Russland Einhalt zu gebieten. Zum anderen sind einige Nationen immer noch zurückhaltend, den Ukrainern Kampf- und Schützenpanzer zu liefern, nicht nur Deutschland, sondern auch Frankreich, Großbritannien und die USA.

Warum?

Ich kann nur Vermutungen anstellen. Amerikanische Raketenwerfer und deutsche Haubitzen stehen weit hinter der Front. Sie wirken indirekt, also in die Tiefe des Raums, gegen russische Artillerie, Gefechtsstände und Munitionslager. Vielleicht fürchtet man, dass westliche Kampfpanzer im direkten Duell mit russischen T-72 auf dem Gefechtsfeld von Putin als praktischer Kriegseintritt westlicher Staaten angesehen würden und er den Krieg dann ausweiten könnte.

Man fürchtet also in Berlin und Washington Bilder von westlichen Waffen im direkten Gefecht mit Russen?

Das wäre eine Erklärung. Aber glaubwürdige Erklärungen hören wir von der Bundesregierung nur wenige. Und die Begründungen wechseln. Kanzler Scholz soll gesagt haben, die Lieferung von Schützenpanzern des Typs "Marder" wäre eine "schreckliche Eskalation". Aber inwiefern? Etwa weil die Ukraine sich wirkungsvoller verteidigen könnte? Verteidigungsministerin Lambrecht wies im Bundestag den Antrag auf Lieferung von Transportpanzern als "Ausplünderung der Bundeswehr" zurück – ein ganz unangemessener Ausdruck, wenn man bedenkt, dass die Ukraine unter großen Verlusten auch unsere Sicherheit gegen Russland verteidigt.

Heinrich Brauß, Jahrgang 1953, ist Generalleutnant a.D. der Bundeswehr. Von 2013 bis Juli 2018 war er Beigeordneter Nato-Generalsekretär für Verteidigungspolitik und Streitkräfteplanung. In dieser Funktion zeichnete Brauß mitverantwortlich für die verteidigungspolitische Neuausrichtung des Verteidigungsbündnisses angesichts der russischen Aggression gegen die Ukraine seit 2014. Mittlerweile ist Brauß Senior Associate Fellow bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin.

Putin kommt es gelegen, dass der Westen aus Furcht vor seiner befürchteten Reaktion bisher auf die Lieferung von Kampfpanzern verzichtet hat.

Ja, aber das kommt mir wie Selbstabschreckung vor. Die Polen, Tschechen, Slowenen haben Kampfpanzer geliefert. Hat man irgendeine Reaktion Moskaus gesehen? Putin wird uns auch nicht wegen der "Gepard"-Panzer angreifen, die nun in wenigen Tagen geliefert werden sollen. Vor einigen Wochen hat Bundeskanzler Scholz in einem Interview gar den Eindruck erweckt, Russland könnte angesichts westlicher Kampfpanzer in der Ukraine möglichweise einen Welt- und Nuklearkrieg entfachen. Das halte ich für abwegig, weil der Aggressor damit selbst dem Untergang geweiht wäre. Putins Drohungen sollen uns verunsichern und von beherzten Entscheidungen abhalten.

Welchen Nutzen haben denn deutsche "Gepard"-Panzer auf den ukrainischen Schlachtfeldern? Es handelt sich nicht um Kampf-, sondern um Flugabwehrkanonenpanzer.

Der "Gepard" ist in der Tat ein sehr effektiver Flugabwehrpanzer. Ich vermute aber, dass die Ukrainer ihn nicht nur zur Flugabwehr einsetzen werden, sondern auch im direkten Richten im Erdkampf an der Front. Mit seinen 35-Millimeter-Zwillingskanonen kann der "Gepard" auch gegen russische Kampf- und Schützenpanzer erhebliche Wirkung erzielen – wie ein Schützenpanzer. Man wird der Ukraine aber wohl nicht vorschreiben, wie sie den "Gepard" einsetzt.

Der russische Überfall auf die Ukraine hat auch das Scheitern der deutschen Verteidigungspolitik offenbart. Die Bundeswehr stehe "mehr oder weniger blank da", hat Heeresinspekteur Alfons Mais Ende Februar geschrieben. Wie konnte es so weit kommen?

Das ist in erster Linie eine Folge der jüngeren historischen Entwicklung. Im Kalten Krieg war die Bundeswehr einmal rund 500.000 Mann stark und besaß mehr als 4.500 Kampfpanzer. Heute sind es noch etwas mehr als 180.000 Soldatinnen und Soldaten und 266 Panzer. Das wiedervereinigte Deutschland sah sich keiner unmittelbaren Bedrohung mehr ausgesetzt. Wir sind nur von Verbündeten und Partnern umgeben. Von Russland glaubte man, es würde ein Partner des Westens. Der Verteidigungshaushalt verringerte sich Jahr für Jahr. Sogar eine ganze Truppengattung wurde abgeschafft. Heute vermissen wir sie schmerzlich.

Sie meinen die Heeresflugabwehrtruppe?

Genau. Womit wir wieder beim "Gepard" wären, der früher das Hauptwaffensystem der Heeresflugabwehrtruppe war. Die Bundeswehr befindet sich heute in einer dramatischen Situation. Die Einsatzbereitschaft des Großgeräts ist besorgniserregend. Wir haben kaum Reserven an modernen Waffensystemen. Die Kapazitäten der Rüstungsindustrie sind geschrumpft. Die Folge sehen wir jetzt: Polen und Tschechen haben den Ukrainern Kampfpanzer sowjetischer Bauart geliefert. Wir wollen ihnen als Ausgleich moderne "Leopard"-Panzer liefern – doch das dauert Monate.

Kann die Bundeswehr ihren Auftrag der Bündnisverteidigung in diesem desolaten Zustand überhaupt erfüllen?

Ich will die Frage mit einem Beispiel beantworten: Im nächsten Jahr muss die Bundeswehr eine voll einsatzbereite mechanisierte Brigade für die Schnelle Eingreiftruppe der Nato stellen. Das Heer hat aber keine voll ausgestattete Brigade. Vielmehr muss der Inspekteur des Heeres eine bestehende Brigade mit allem Nötigem aufstocken, das er im Heer quasi zusammenkratzen kann. Mit dem Sonderfonds von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr wird sich dies gottlob bald ändern.

Russland tritt aber doch schon seit Jahren immer aggressiver auf, 2014 annektierte Putin die Krim. Warum ist die Bundeswehr nicht früher für mögliche Bedrohungen aus dem Osten gerüstet worden?

Natürlich hat die Nato auf die veränderte Sicherheitslage im Osten Europas reagiert. Abschreckung und Verteidigung wurde wieder ihre Hauptaufgabe. Die Schnelle Eingreiftruppe wurde massiv verstärkt. In Polen und den baltischen Staaten stehen heute multinationale Gefechtsverbände, von denen Deutschland einen in Litauen führt. Entschieden wurde auch, dass jeder Bündnispartner mindestens zwei Prozent des Bruttosozialprodukts für Verteidigung ausgibt.

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Auch die Bundesregierung unter Kanzlerin Merkel hatte sich diesem Ziel verpflichtet – erfüllte es dann aber nicht.

Die Einigung der Staats- und Regierungschefs der Nato sah eine sukzessive Steigerung der Verteidigungshaushalte der Staaten, die unter zwei Prozent lagen, bis zum Jahr 2024 auf zwei Prozent vor. Auf dieser Grundlage konnte das Verteidigungsministerium der Nato bis 2023 eine vollständig ausgestattete Brigade der Bundeswehr zusagen, bis 2027 eine voll ausgestattete Division und bis 2031/2 schließlich drei Divisionen. Dazu entsprechende Kräfte der Luftwaffe und Marine, Spezialkräfte und Cyberabwehr.

Doch dann schwenkte Merkel um.

Im Jahr 2018 erklärte Frau Merkel plötzlich, bis 2024 nur den Wert von 1,5 Prozent erreichen zu wollen. Die Reaktionen unserer Bündnispartner können Sie sich vorstellen. Donald Trump fühlte sich bestätigt, und die anderen Verbündeten waren teilweise regelrecht entsetzt: Der reichste und wichtigste europäische Bündnispartner erfüllt sein Versprechen nicht und gefährdet damit auch ihre Sicherheit. Der Wortbruch hat Folgen bis heute.

Nun will es Olaf Scholz mit einer "Zeitenwende" und einem Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr richten. Vertrauen Sie darauf, dass Merkels Nachfolger sein Wort hält?

Ich bin froh, dass Bundeskanzler Scholz den Sonderfonds auf den Weg gebracht hat. So kann die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr in ihren jetzigen Strukturen hergestellt werden. Der Bundestag hat dem Sonderfonds zugestimmt. Er wird die Implementierung überwachen wollen. Die militärische Führung hat ehrgeizige Pläne entwickelt, wie die neuen Mittel verwendet werden sollen. Aber das komplizierte Beschaffungswesen muss grundlegend reformiert werden. Dafür müssen Regierung und Parlament an einem Strang ziehen. Der Bundeskanzler weiß, wie sehr Deutschlands Sicherheit davon abhängt und auch seine eigene Glaubwürdigkeit bei unseren Verbündeten.

In der Ukraine rückt die russische Armee nach dem gescheiterten Vorstoß auf Kiew nun im Donbass vor. Wie bewerten Sie die veränderte Strategie?

Es ist eigentlich unfassbar, wie schlecht die russische Führung ihren Angriff auf die Ukraine vorbereitet hatte und wie militärisch amateurhaft sie zunächst vorging. Allerdings waren die Ukrainer auch sehr gut vorbereitet und verteidigen sich hervorragend. Nun haben die Russen im Donbass die Masse ihrer Kräfte konzentriert und rücken langsam und systematisch vor, immer mit einer brutalen Feuerwalze der Artillerie vorweg, die alles zerschlägt, vor allem zivile Infrastruktur, Dörfer und ganze Städte, mit unsäglichen Opfern unter der Bevölkerung.

Wie lange kann die russische Artillerie den massiven Beschuss aufrechterhalten?

Auch der russische Munitionsvorrat ist nicht unendlich, allerdings arbeiten Russlands Waffen- und Munitionsfabriken sicher auf Hochtouren. Das ist Putins großer Vorteil: Während seine Armee die militärische Infrastruktur der Ukraine systematisch zerstört, bleiben Russlands Rüstungsbetriebe intakt. Der preußische General und Militärwissenschaftler Carl von Clausewitz hat einst beschrieben, dass ein Angriff, je länger er dauert, seinen "Kulminationspunkt" erreicht, also sich irgendwann erschöpft und dann stockt oder zusammenbricht. So etwas lässt sich bislang bei der russischen Armee nicht beobachten.

Hoffen Sie denn darauf?

In den kommenden Wochen soll sehr viel westliches Kriegsgerät die Ukraine erreichen. Die ukrainische Armee könnte dadurch operativ wesentlich beweglicher werden. Die Berichte über die kolossale Wirkung des weitreichenden und sehr treffgenauen amerikanischen Raketenwerfers Himars auf die russische Armee klingen ermutigend.

Was macht Putin dann?

Das Leiden seiner eigenen Soldaten ist Putin egal, das Leiden der Ukrainer sowieso. Er wird nicht klein beigeben. Der Krieg gegen die Ukraine ist der erste Schritt seiner imperialen Strategie. Er will "russische Erde zurückholen", also ein großrussisches Reich schaffen. Die Nato soll sich militärisch aus allen Ländern zurückziehen, die ihr seit 1997 beigetreten sind. Mittelosteuropa soll eine Pufferzone unter russischer Kontrolle werden. Deshalb verteidigen die Ukrainer im Donbass auch Europa. Die Nato stärkt nun ihre Verteidigung weiter massiv, Finnland und Schweden treten ihr bei. Einen Krieg gegen diese Nato riskiert Putin nicht. Denn den würde er verlieren, und damit wäre auch sein Regime am Ende.

Herr Brauß, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Heinrich Brauß via Videokonferenz
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