Per Erlass Selenskyj entlässt umstrittenen Botschafter Melnyk
Über ein Ende seiner Tätigkeit in Deutschland wurde bereits länger spekuliert. Nun hat der ukrainische Präsident die Entlassung des Botschafters angeordnet.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat den ukrainischen Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, entlassen. Das geht aus einem Erlass Selenskyjs vom Samstag hervor. Gründe oder ein möglicher Nachfolger wurden in der Nachricht nicht genannt. Die ukrainische Botschaft in Berlin wollte das Dekret nicht kommentieren. Eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes teilte auf Anfrage mit: "Gegenüber dem Auswärtigen Amt wurde eine Abberufung des Botschafters bislang nicht notifiziert."
Außer Melnyk wurden laut Präsidialamt auch die Botschafter der Ukraine in Norwegen, Tschechien und Ungarn sowie Indien entlassen. Auch dort wurden keine Gründe oder künftige Verwendungen genannt. In einer Videobotschaft am Samstagabend sprach der ukrainische Präsident von einem normalen Vorgang. "Ich habe heute Dekrete über die Entlassung einiger Botschafter der Ukraine unterzeichnet. Diese Frage der Rotation ist ein üblicher Teil der diplomatischen Praxis", sagte er am Samstag in einer Videobotschaft, ohne einen der fünf Botschafter namentlich zu nennen. Die Kandidaten würden vom Außenministerium vorbereitet.
Umstrittene Äußerungen
Der Diplomat war zuletzt in die Kritik geraten wegen Äußerungen über den ukrainischen Nationalisten und Antisemiten Stepan Bandera. Bandera war während des Zweiten Weltkriegs Anführer des radikalen Flügels der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN). Nationalistische Partisanen aus dem Westen der Ukraine waren 1943 für ethnisch motivierte Vertreibungen verantwortlich, bei denen Zehntausende polnische und jüdische Zivilisten ermordet wurden.
Melnyk bestritt in einem Interview mit dem Journalisten Tilo Jung, dass Bandera ein Massenmörder von Juden und Polen gewesen sei. Der Nationalist sei gezielt von der Sowjetunion dämonisiert worden. Die israelische Botschaft hatte dem Botschafter daraufhin "eine Verzerrung der historischen Tatsachen, eine Verharmlosung des Holocausts und eine Beleidigung derer, die von Bandera und seinen Leuten ermordet wurden" vorgeworfen.
Lange Zeit auf dem Posten
Der sonst schlagfertige Melnyk wies Anfang Juli nach tagelangem Schweigen den Vorwurf zurück, er habe mit seinen Äußerungen über Bandera den Holocaust verharmlost. "Jeder, der mich kennt, weiß: Immer habe ich den Holocaust auf das Schärfste verurteilt", schrieb Melnyk am Dienstag auf Twitter. Die Vorwürfe gegen ihn seien "absurd".
Auch zuvor fiel Melnyk immer wieder mit kontroversen Aussagen auf. Mehr dazu lesen Sie hier. Der 46-Jährige war seit Januar 2015 Botschafter in Deutschland – eine außergewöhnlich lange Zeit für einen Diplomaten auf einem Posten. Auch Kommentatoren in Kiew sagten am Samstag, dass dies etwa das Doppelte der üblichen Entsendungszeit gewesen sei.
Rückkehr ins Außenministerium?
Der Diplomat hatte in den vergangenen Monaten mit seiner scharfen Kritik auch an Kanzler Olaf Scholz (SPD) für Aufsehen gesorgt. Er warf Scholz und seinen Ministern unter anderem vor, zu zögerlich Waffen für den Kampf gegen die russischen Angreifer in die Ukraine zu liefern.
Anfang Juli war bereits über eine Ablösung Melnyks spekuliert worden. Laut Informationen von "Bild" und der "Süddeutschen Zeitung" war im Gespräch, dass der 46-Jährige in seine Heimat zurückkehrt, um stellvertretender Außenminister zu werden. Welche Aufgabe Melnyk in Zukunft übernimmt, ist nicht bekannt.
"Unüberhörbare und unermüdliche Stimme"
Bundestags-Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt hatte Melnyk nach dessen Abberufung als ukrainischer Botschafter in Deutschland Respekt gezollt. "Andrij Melnyk hat sich mit voller Kraft für sein Land eingesetzt. Er ist eine unüberhörbare und unermüdliche Stimme für eine freie Ukraine", teilte die Grünen-Politikerin am Samstag mit.
Zugleich distanzierte sich Göring-Eckardt von Melnyks Äußerungen über Stepan Bandera. "Was die Person Bandera betrifft, sind wir uns nicht einig", teilte Göring-Eckardt mit. "Unabhängig davon wünsche ich ihm alles Beste für ihn persönlich, für seinen künftigen Dienst und vor allem für sein Land."
Kiesewetter zeigt Verständnis für Wortwahl
CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter sagte der "Augsburger Allgemeinen", Melnyk habe für die Ukraine "wichtige Verdienste geleistet". So habe er bereits vor dem Beginn des russischen Angriffs auf das Land am 24. Februar auf die russische Bedrohung hingewiesen und um Unterstützung geworben.
Kiesewetter zeigte Verständnis für die manchmal etwas derbe Wortwahl des Botschafters. Der Außenexperte sagte: "Dass er hier nicht immer den diplomatischen Ton traf, ist angesichts der unfassbaren Kriegsverbrechen und des Leids für das ukrainische Volk mehr als verständlich."
FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann äußerte sich ähnlich: "Andrej Melnyk war ein Diplomat der besonderen Sorte: Mehr Politiker als Diplomat, laut, unbequem und äußerst streitbar", sagte sie dem ARD-Hauptstadtstudio über den Ukrainer. Doch mit seinen Äußerungen habe er durchaus auch Grenzen überschritten. "Er war der lautstarke Kämpfer für ein Land, das sich in einem furchtbaren Krieg befindet", so Strack-Zimmermann.
- president.gov.ua: "УКАЗ ПРЕЗИДЕНТА УКРАЇНИ №479/2022" (ukrainisch)
- bild.de: "Selenskyj entlässt Botschafter Melnyk"
- Nachrichtenagentur dpa