Nächstes Kriegsverbrechen? Russlands perfide Strategie im Häuserkampf
In der Nähe von Kiew haben russische gegen ukrainische Truppen direkt in kleinen Ortschaften gekämpft. Dabei bedienten sich die Russen ukrainischen Behörden zufolge einer verbotenen Taktik.
Im Dorf Obuchowytschi ist ein Graben bis zu den Fundamenten eines Hauses ausgehoben, die aufgeschüttete Erde reicht bis zum Fenster im Erdgeschoss. Ein anderes Gebäude ist zur Hälfte von einem Graben umgeben, wie bei einer Burg. Bis Ende März dienten die Gräben als Versteck russischer Soldaten, die sich im Häuserkampf gegen Angriffe ukrainischer Truppen schützen wollten. "Sie wussten, dass unsere Leute keine Wohnhäuser beschießen würden. Sie haben die Menschen als Schutzschilde benutzt", wirft Schenja Babenko den russischen Angreifern vor.
Die 75-Jährige lebt in dem Ort 70 Kilometer nordwestlich von Kiew, in dem bis vor ein paar Tagen noch russische gegen ukrainische Soldaten in den Straßen kämpften. Vor dem Krieg lebten hier 1.500 Menschen. Die Russen hätten sich schützen wollen, indem sie ihre Fahrzeuge zwischen die Häuser stellten, erzählt Babenko weiter.
Schützengräben zwischen Wohnhäusern
AFP-Reporter sahen vor Ort allein in einer Straße fünf Gräben zwischen Wohnhäusern, daneben Kettenspuren von Panzern, in den Gräben Reste von Rationspaketen, zurückgelassene Militärkleidung und leere russische sowie belarussische Zigarettenschachteln.
Der Einsatz von Menschen als Schutzschilde ist nach den Genfer Konventionen, dem internationalen Kodex für humanitäres Verhalten in Kriegszeiten, untersagt. In einem Protokoll von 1977 heißt es: "Zivilisten dürfen nicht dazu benutzt werden, bestimmte Punkte oder Gebiete vor militärischen Einsätzen zu schützen, insbesondere nicht bei dem Versuch, militärische Ziele vor Angriffen zu bewahren." Es wären nicht die ersten Kriegsverbrechen, die den russischen Truppen seit Beginn der Invasion in der Ukraine angelastet werden.
Auf einer Straße, die in den Ort führt, steht ein Konvoi aus vier zerstörten Lastwagen und einem Panzer. Auf einer Grünfläche befindet sich ein weiteres Fahrzeugwrack neben improvisierten, in die Erde gegrabenen Schlafplätzen. "Sie waren überall im Dorf stationiert", sagt der 62-jährige Mykola Wareldschan. "Und sie wussten, dass hier Kinder sind. Denn als sie kamen, gingen sie von Haus zu Haus und kontrollierten die Dokumente."
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"Sie holten uns aus dem Keller und zählten uns"
Nicht nur Panzer, Kommunikationsfahrzeuge und gepanzerte Truppentransporter seien zwischen den Häusern abgestellt worden, auch Artillerie habe in ihrem Garten gestanden, berichtet die 35-jährige Julia Piankowa. An den Häusern des Dorfes sind die Spuren der Artillerieeinschläge zu sehen. Fenster wurden herausgesprengt, die Wände sind mit Löchern übersät, manche Häuser sind kaum mehr als solche zu erkennen.
"Es ist schlimm, dass sie nicht ins freie Feld gegangen sind um zu kämpfen, sondern dorthin, wo viele Menschen waren", sagt Piankowa. Auf dem Zaun um ihr Grundstück steht mit weißer Farbe auf Russisch das Wort "Kinder". Die 35-Jährige hat fünf Kinder, eines ist behindert. "Sie holten uns aus dem Keller, zählten uns und begannen am nächsten Tag zu graben", erzählt die Mutter. "Sie haben die Gräben für die Fahrzeuge ausgehoben und uns als Schutzschilde benutzt."
Vorwürfe: gezielte Tötungen, Vergewaltigungen, Verschleppungen
Russland werden im Ukraine-Krieg schwere Kriegsverbrechen vorgeworfen, darunter das Bombardement von zivilen Zielen, das gezielte Töten von Zivilisten, Vergewaltigungen und Verschleppungen. Zuletzt machte die Europäische Union Russland für den Angriff auf den Bahnhof im ostukrainischen Kramatorsk mit mehr als 50 Toten verantwortlich.
Der außenpolitische Sprecher der EU sprach am Samstag von einem Kriegsverbrechen und stellte den Angriff in eine Reihe mit "von den russischen Streitkräften begangenen Gräueltaten in Butscha, Borodjanka und anderen Städten und Dörfern" in der Ukraine. In dem Kiewer Vorort Butscha waren nach ukrainischen Angaben nach dem Rückzug der russischen Armee zahlreiche Leichen von Zivilisten gefunden worden.
Internationaler Strafgerichtshof ermittelt bereits
Die EU wird in den nächsten Tagen mit dem Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) über Ermittlungen wegen möglicher Kriegsverbrechen in der Ukraine beraten. Am Sonntag werde der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell Chefankläger Karim Khan zu Gesprächen in Luxemburg empfangen, teilte die EU-Kommission am Samstag mit. Tags darauf nehme Khan an einem Treffen der EU-Außenminister teil.
Der IStGH in Den Haag hat bereits entsprechende Ermittlungen aufgenommen. Mit dem Schritt macht die EU ihre Unterstützung für die Untersuchung mutmaßlicher Gräueltaten in der Ukraine, insbesondere in Butscha, deutlich.
- Nachrichtenagenturen dpa, AFP