Krieg in der Ukraine "Das grausame Gesicht von Putins Armee"
Sie ist die erste westliche Spitzenpolitikerin, die sich ein Bild vom Grauen in Butscha macht: Ursula von der Leyen fährt zehn Stunden in das ukrainische Kriegsgebiet – für sie ist es eine Reise in die Hölle.
Reisen in Kriegsgebiete kennt Ursula von der Leyen aus ihrer Zeit als Verteidigungsministerin nur zu gut. Aber was sie im Kiewer Vorort Butscha sieht, ist auch für sie neu. Am Freitagnachmittag steht sie fassungslos vor 20 Leichen, jede in einen schwarzen Plastiksack verpackt, nebeneinander aufgereiht auf schlammigem Untergrund. Die toten Körper von 20 Einwohnern Butschas waren bis vor wenigen Stunden oder Tagen in einem Massengrab verscharrt. Jetzt versuchen Ermittler aufzuklären, was mit diesen Menschen und hunderten anderen getöteten Zivilisten passiert ist.
"Jetzt kann die ganze Welt das wahre Gesicht Russlands sehen", sagt der uniformierte Mann, der von der Leyen über das Gelände führt. "Wir wussten jahrelang davon. Aber jetzt kann die ganze Welt bezeugen, was wir hier erleben mussten."
Das "grausame Gesicht von Putins Armee"
Von der Leyen, mit einer schusssicheren Weste bekleidet, findet kaum Worte. "Die ganze Welt trägt Trauer, nach allem, was hier passiert ist", sagt sie, Sie spricht vom "grausamen Gesicht von Putins Armee", von "Rücksichtslosigkeit" und "Kaltherzigkeit". In der St.-Andreas-Kirche zündet sie zusammen mit dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell und dem slowakischen Ministerpräsidenten Eduard Heger Kerzen für die Opfer an - mit versteinertem Gesicht steht sie da.
Von der Leyen ist die erste westliche Spitzenpolitikerin, die Butscha nach dem Massaker besucht, erst vor einer Woche bekannt geworden ist und die ganze Welt erschüttert hat.
Raketenangriff auf einen Bahnhof
Noch während sie auf dem Weg in die Ukraine, wird ein Raketenangriff auf einen Bahnhof in der ukrainischen Stadt Kramatorsk bekannt. Nach offiziellen Angaben sterben 50 Menschen, unter ihnen 5 Kinder. Sie wollten in Züge einsteigen, um in sicherere Gebiete zu fahren.
Durch diese etwas sichereren Gebiete fährt von der Leyen bei ihrer Anreise nach Kiew - ebenfalls mit dem Zug. Ihre Reise beginnt in der Kleinstadt Przemysl, im Südosten Polens, nur 13 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. Dort kommen immer noch jeden Tag Tausende Flüchtlinge aus der Ukraine an, zu Hochzeiten waren es auch mal mehr als 100.000. Von ihnen sieht von der Leyen dort nichts, sie wird direkt auf den Bahnsteig geleitet, auf dem ihr Sonderzug abfährt. Fünf Waggons, für die Kommissions-Delegation, den slowakischen Ministerpräsidenten Eduard Heger und einige EU-Parlamentarier.
Abgedunkelte Fenster - geheime Route
Mitten in der Nacht geht es los. Die Fenster werden abgedunkelt, über die genaue Route wird geschwiegen. Überhaupt soll so viel wie nur möglich über diese Reise geheim gehalten werden - aus Sicherheitsgründen. Nach einer guten halben Stunde erreicht der Zug die Grenze zwischen Polen und der Ukraine, zwischen der EU und denen, die noch nicht dabei sein dürfen. Zwischen Frieden und Krieg. Die ukrainische Zöllnerin sagt nach der Passkontrolle "good luck" – "viel Glück".
Dann geht es mehr als zehn Stunden durchs Kriegsgebiet nach Kiew, von dort gleich weiter nach Butscha. Auf dem Weg dorthin sieht von der Leyen Panzersperren, Checkpoints und provisorischen Straßensperren aus Beton, Erde und Sandsäcken. Zerstörte russische Panzer zeugen von heftigen Kämpfen in den inzwischen befreiten Vororten. Auch heute gehen in Kiew noch regelmäßig die Sirenen - Luftalarm.
Erwartungen in Kiew sind hoch
Zurück in Kiew trifft von der Leyen die Regierungsspitze. Die Erwartungen an den Gast aus Brüssel sind hoch. Nach dem Massaker von Butscha dringen Präsident Wolodymyr Selenskyj und seine Regierung noch vehementer Unterstützung des Westens - mit Waffen und Sanktionen. Ohne härtere Strafmaßnahmen werde "Russland niemanden und nichts verstehen", sagt der Präsident.
Das Treffen mit von der Leyen fällt trotzdem einigermaßen herzlich aus. Den Druck übt der Präsident eher auf die 27 Mitgliedstaaten aus. In von der Leyen sieht er wohl eher eine Verbündete bei seinen Versuchen, Länder wie Deutschland von einem schnellen EU-Beitritt und harten Sanktionen zu überzeugen. "Ich bin heute mit dir hier in Kiew, um ein deutliches Zeichen zu setzen, dass die Europäische Union an eurer Seite steht", sagt von der Leyen zu Selenskyj bei der gemeinsamen Pressekonferenz.
Natürlich zählt von der Leyen bei ihrem Besuch auch auf, was die EU bereits für die Ukraine tut: Waffen für die Armee; Sanktionen, die Russland wirtschaftlich in die Knie zwingen sollen; Hilfe für die Millionen Binnenvertriebenen und Flüchtlinge.
Selenskyj hofft auf EU-Beitritt
Und dann ist das noch die große Frage nach dem EU-Beitritt der Ukraine. Der Krieg war nur wenige Tage alt, da hatte Selenskyj schon den Beitrittsantrag nach Brüssel geschickt. Von der Leyen will den Ukrainern Hoffnung machen - kann zugleich aber kaum konkrete Zusagen machen. Sie werde mit Regierungschef Denys Schmyhal und Präsident Selenskyj an dem Beitrittsprozess arbeiten, sagt sie. Und dass man alles tun werde, um die Ukraine dabei zu unterstützen, die notwendigen Schritte zu unternehmen. Entscheiden kann von der Leyen in der Sache ohnehin kaum etwas. Ihre Behörde prüft zwar gerade mit Hochdruck den Antrag der Ukraine. Entscheidungen liegen danach jedoch bei den 27 EU-Staaten - und müssen einstimmig getroffen werden.
Von der Leyen und der EU-Außenbeauftragte Borrell kommen aber trotzdem nicht mit leeren Händen. Gerade erst hat die EU ein umfangreiches Paket mit neuen Sanktionen gegen Russland beschlossen. Erstmals wurde auch ein Energieembargo beschlossen. Mit einer Übergangszeit von vier Monaten soll keine russische Kohle mehr in die EU importiert werden.
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Borell hofft auf zusätzliche 500 Millionen für Rüstung
Borrell zeigt sich zuversichtlich, dass die EU-Staaten seinem Vorschlag folgen, der Ukraine weitere 500 Millionen Euro zur Unterstützung der Streitkräfte zur Verfügung zu stellen, insgesamt wären es dann 1,5 Milliarden Euro. Und der slowakische Regierungschef Heger verkündet überraschend, dass sein Land der Ukraine sein S-300-Flugabwehrsystem schenken werde - ein System, das mit präziser Lenktechnik gegnerische Flugzeuge oder Raketen zerstört.
Für Borrell ist diese Reise, an der nur wenig gewöhnlich ist, auch ein Zeichen der Normalität. "Sie zeigt, dass dieses Land immer noch von den Ukrainern kontrolliert wird", sagt der Spanier. Man könne nach Kiew reisen und dort gebe es eine Regierung, die in der Lage sei, Menschen von außerhalb zu empfangen.
- Nachrichtenagentur dpa