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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Berichte von US-Geheimdiensten Die Männer, die Putin wohl in die Irre führen
Der Krieg in der Ukraine läuft für Russland alles andere als nach Plan. Die USA glauben, dass Putin sogar von seinen engsten Beratern nicht mehr richtig über die Lage informiert werde. Auf wen hört der Kremlchef überhaupt noch? Ein Überblick.
Erhält der russische Präsident Wladimir Putin realistische Informationen darüber, was in der Ukraine passiert? Daran gibt es erhebliche Zweifel.
Am Mittwoch veröffentlichte die US-Regierung Geheimdienstinformationen, wonach Putin von seinen engsten Beratern nicht ehrlich und wirklichkeitsgetreu über die Situation in der Ukraine aufgeklärt werde.
"Wir glauben, dass er von seinen Beratern nicht richtig darüber informiert wird, wie schlecht das russische Militär agiert und wie die russische Wirtschaft durch die Sanktionen gelähmt wird", sagte die Kommunikationsdirektorin des Weißen Hauses, Kate Bedingfield. Putins hochrangige Berater hätten "zu viel Angst, ihm die Wahrheit zu sagen".
So sei beispielsweise davon auszugehen, dass Putin nicht wusste, dass die russische Armee junge Wehrpflichtige für den Krieg in der Ukraine eingezogen hatte, erklärte ein mit den Informationen vertrauter US-Beamter der "New York Times".
Gleichzeitig liegen den US-Geheimdiensten offenbar Informationen darüber vor, dass Putins Frustration wachse – angesichts der "Spezialoperation", die aus russischer Sicht nicht nach Plan verläuft. Dies führe zu Spannungen und Misstrauen gegenüber seinen militärischen Beratern. Die Vereinigten Staaten gehen jedoch davon aus, dass diese ihm auch weiterhin nicht die Wahrheit über den tatsächlichen Kriegsverlauf sagen wollen. Der Kreml wies die Erkenntnisse der westlichen Geheimdienste am Donnerstag zurück.
Wer genau aus Putins engstem Kreis ihn – wohl aus Angst – in die Irre führt, darüber geben die veröffentlichten amerikanischen Geheimdienstinformationen keinen Aufschluss. Es lassen sich aber Vermutungen anstellen, denn: Der russische Präsident tausche sich mit immer weniger Personen aus.
Vor zehn Jahren seien es noch ein paar Dutzend Personen gewesen, heute hätten vielleicht nur noch sieben bis zehn Leute einen direkten Draht zu ihm, sagt etwa der russische Geheimdienstexperte und Investigativjournalist Andrej Soldatow. Wer gehört noch zu dem erlesenen Kreis? Ein Überblick.
► Sergej Schoigu, Verteidigungsminister
Verteidigungsminister Sergej Schoigu ist ein langjähriger Vertrauter und wichtiger Ratgeber Putins. Immer wieder unternehmen der russische Präsident und sein Minister gemeinsame Ausflüge in die Natur, festgehalten auf zahlreichen Fotos: etwa zum Jagen oder Fischen in Sibirien.
Seit rund 30 Jahren ist Schoigu bereits auf der politischen Bildfläche Russlands: Angefangen hatte er 1994, als er das neu gebildete Katastrophenschutzministerium übernahm und damit schon lange vor Putin wichtige Regierungsaufgaben innehatte. Zwischenzeitlich wurde er sogar als ein möglicher Nachfolger Putins angesehen.
Was Schoigu laut Kennern immer ausgemacht habe: Die absolute Loyalität gegenüber dem russischen Präsidenten. "Es könnte ein Spiel sein, aber Putin glaubt ihm und vertraut ihm und ist davon überzeugt, dass Schoigu komplett loyal ihm gegenüber ist", sagt Soldatow im "New Yorker".
"Ein gewiefter Politiker" sei Schoigu, so Soldatow – schon allein, weil er nach rund dreißig Jahren noch immer Minister sei und alle politischen Krisen überlebt habe. Nach 18 Jahren als Verantwortlicher für den Katastrophenschutz übernahm er 2012 das viel mächtigere Verteidigungsministerium. Ihm wird in Russland deshalb auch der "Erfolg" der Annektierung der Krim 2014 zugeschrieben.
Auch die jetzige "militärische Spezialoperation" in der Ukraine, wie der Krieg in Russland genannt werden muss, liegt in Schoigus Verantwortung. Dabei zeigen die jetzt öffentlich gemachten US-Informationen offenbar eine wachsende Spannung zwischen Putin und seinem Verteidigungsminister.
Der Sprecher des amerikanischen Verteidigungsministeriums, John Kirby, ging in einem Statement am Mittwoch explizit auf dessen Rolle ein: Dass Putin keinen Zugang zu einer akkuraten Darstellung des Versagens seiner Armee in der Ukraine habe, lasse die Schlussfolgerung zu, dass "Putin von seinem Verteidigungsministerium im letzten Monat nicht vollständig informiert wurde".
Spekulationen über das aktuelle Verhältnis zwischen Putin und Schoigu werden angeheizt, da der Verteidigungsminister seit über zwei Wochen nicht mehr in der Öffentlichkeit aufgetaucht ist. Mehr dazu lesen Sie hier.
Ist Schoigu angesichts des desaströsen Ukraine-Feldzugs in Ungnade gefallen? Mit Sicherheit sei Putin mit Schoigu unzufrieden, sagt der russische Investigativjournalist Soldatow in der "Zeit". Zugleich habe Putin aber keine Alternative zu seinem Verteidigungsminister – die "Spezialoperation" sei mit Schoigu verbunden.
"Möglich, dass sich Schoigu selbst – vielleicht unter dem Vorwand gesundheitlicher Gründe – rar gemacht hat, um Putin zu signalisieren, dass er eigentlich unersetzbar ist und nicht so leicht gegen eine andere Figur ausgetauscht werden kann", so Soldatow.
Dabei sei Schoigu nicht nur für das Militär verantwortlich, sondern auch in Teilen für die ideologische Kampagne des Kreml. Auch deshalb geht Soldatow davon aus, dass der Verteidigungsminister weiterhin eine der einflussreichsten Stimmen für den Präsidenten ist.
► Nikolai Patruschew, Sekretär des Sicherheitsrates
Sein Einfluss auf Putin gilt als enorm: Der heutige Sekretär des Sicherheitsrates Nikolai Patruschew ist ein treuer Anhänger Putins – und einer seiner langjährigsten Freunde. Während der Sowjetzeit arbeitete er mit ihm im KGB zusammen, und löste Putin 1999 als Leiter der Nachfolgeorganisation, des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, ab.
Wenige haben dabei so viel Einfluss auf Putin wie Patruschew: Er ist der Sekretär des Sicherheitsrats, der von Putin selbst geleitet wird. Er "spricht ziemlich oft mit Putin, da es wöchentliche Sitzungen gibt", sagt der Experte Nikolai Petrow in der BBC.
Patruschew gilt als Hardliner und ist berüchtigt für seine anti-westlichen Ansichten – kaum ein Bericht über ihn kommt dabei ohne den Begriff "Falke" aus: "Patruschew ist der kämpferischste Falke, weil er glaubt, der Westen sei seit Jahren darauf aus, Russland zu schnappen", sagt Ben Noble vom University College London in der BBC.
► Alexander Bortnikow, Leiter des Inlandsgeheimdienstes FSB
Zu dem innersten Kreis Putins gehört auch Alexander Bortnikow, der heutige Chef des Inlandsgeheimdienstes – auch er eine Figur noch aus alten KGB-Zeiten Putins, seit den 1970ern arbeiten sie zusammen. Bortnikow folgte wiederum Patruschew auf den Posten im FSB nach.
Experten gehen davon aus, dass Bortnikow in mögliche Pläne einer vollständigen Invasion der Ukraine eingeweiht gewesen sei, so etwa der Analyst der britischen Denkfabrik Chatham House Petrow gegenüber der BBC. Gleichzeitig denkt er jedoch, dass Bortnikow nicht daran beteiligt gewesen sei, den Krieg strategisch zu entwickeln.
Er sei damit zwar ein wichtiger Vertrauter, jedoch bezüglich Ratschläge an den Präsidenten nicht so wichtig wie andere, davon ist etwa der Experte Soldatow überzeugt.
Gleichzeitig betreibt eine Abteilung des FSB auch Spionage in den früheren Sowjetrepubliken, folglich ebenfalls in der Ukraine. Mit dem desaströsen Verlauf der russischen Offensive dürfte also auch Bortnikow ein Problem haben.
► Sergej Naryschkin, Chef des Auslandsgeheimdienstes SWR
Wladimir Putin hat ihn vorgeführt wie einen Schuljungen kurz vor Beginn des russischen Angriffskrieges: Der Chef des Auslandsgeheimdienstes SWR, Sergej Naryschkin, wurde in einer Sitzung des Sicherheitsrates von Putin mit kritischen Nachfragen live vor der Kamera bloßgestellt. Viele Beobachter zeigten sich überrascht oder sogar geschockt angesichts dieser öffentlichen Demütigung. Experte Soldatow hat eine andere Erklärung: "Putin liebt es, Spiele mit seinem inneren Kreis zu spielen, ihn als einen Narren aussehen zu lassen", so der Journalist in der BBC.
Naryschkin wird eine besondere Nähe zu Putin nachgesagt. Laut Berichten russischer Medien besuchte er gemeinsam mit Putin eine KGB-Hochschule in St. Petersburg, 2004 folgte er Putin nach Moskau, wurde unter anderem Sprecher des Parlaments. 2016 wurde der Ökonom und Ingenieur zum Chef der Auslandspionage berufen.
Seit vielen Jahren ist er außerdem der Vorsitzende der Russischen Historischen Gesellschaft und gilt damit auch als Chef-Ideologe mit einem großen Einfluss auf Putin.
► Waleri Gerassimow, Chef des Generalstabes der Streitkräfte
Ein "ernster, zerklüfteter Schlägertyp", so bezeichnet der Russland-Experte Mark Galeotti den Chef des Generalstabes der Streitkräfte, Waleri Gerassimow.
Seit er ab 1999 ein Kommandeur der Armee des Nordkaukasus während des zweiten Tschetschenienkrieges war, war Gerassimov in alle wichtigen russischen Militäraktivitäten seitdem involviert.
Neben dem Verteidigungsminister gilt auch Gerassimow als Architekt der Krim-Annexion 2014, außerdem der russischen Militärstrategie in Syrien sowie der Unterstützung der prorussischen Rebellen im Donbass.
Im selben Jahr, in dem Schoigu Verteidigungsminister wurde, wurde Gerassimow Chef des Generalstabes der Streitkräfte. Seitdem ist er der offizielle Stellvertreter des Verteidigungsministers bei dessen Abwesenheit.
Auch bei der Planung der Invasion der Ukraine spielte er eine wichtige Rolle und hat etwa die zuvor stattgefundenen Militärübungen in Belarus beaufsichtigt.
Laut der BBC gebe es nun Berichte darüber, dass Gerassimow aufgrund der stockenden russischen Offensive an den Rand gedrängt worden sei. Dieser Auffassung widerspricht Geheimdienstexperte Soldatow: Sowohl Putin als auch Schoigu seien auf Gerassimow angewiesen. "Putin kann nicht jede Straße und jedes Bataillon kontrollieren." Das sei Gerassimows Aufgabe.
Und nun?
Doch so sehr Putin auf seine Berater angewiesen ist, desto dünner könnte die Luft für diese werden, sollte Russland nicht bald militärische Erfolge erzielen.
Auch die engsten Vertrauten könnten früher oder später das Ziel von Putins Wut werden, glaubt der Experte und frühere Redenschreiber des Präsidenten, Abbas Gallyamov: Er gehe davon aus, dass Putin sicherlich führende Köpfe des Verteidigungsministeriums, vielleicht auch des Inlandsgeheimdienstes loswerden wolle, so Gallyamov zur "Deutschen Welle".
Doch solange der Krieg dauere, werde Putin von einer Bestrafung absehen: "Jetzt beispielsweise den Verteidigungsminister oder den Chef der Streitkräfte zu bestrafen, würde bedeuten, dass du zugibst, dass du versagt hast."
- Eigene Recherchen
- BBC: "Who's in Putin's inner circle and running the war?" (Englisch)
- DW: "Putin's inner circle: Who has the Russian president's ear on the war in Ukraine?" (Englisch)
- "New York Times": "U.S. intelligence suggests that Putin’s advisers misinformed him on Ukraine" (Englisch)
- Tagesschau: "Die Männer um Putin: Auf Nummer sicher"
- "The New Yorker": "The Purges in Putin’s shrinking inner circle" (Englisch)
- "Zeit": "Andrej Soldatow: Die Geheimdienstinformationen entsprechen sicher nicht der Realität"