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Anschlag in Straßburg: Woran man erkennt, dass sich ein Häftling radikalisiert


Attentat in Straßburg
Woran man erkennt, dass sich ein Häftling radikalisiert

InterviewEin Interview von Jonas Schaible

13.12.2018Lesedauer: 5 Min.
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Polizisten in Straßburg am Ort des Attentats: Der Schütze soll sich im Gefängnis radikalisiert haben.Vergrößern des Bildes
Polizisten in Straßburg am Ort des Attentats: Der Schütze soll sich im Gefängnis radikalisiert haben. (Quelle: Christophe Ena/ap)

Der Attentäter von Straßburg soll sich im Gefängnis radikalisiert haben. Man könne so etwas bemerken, sagt der Seelsorger Abdelmalek Hibaoui – und dagegen vorgehen.

Der Mann, der am Dienstag in Straßburg drei Menschen erschoss und ein Dutzend verletzte, hatte zuvor mehrere Jahre im Gefängnis verbracht. Dort habe er sich radikalisiert, teilte das französische Innenministerium mit. Vermutlich fand er so Zugang zu dschihadistischen Islamisten.

Es wäre nicht das erste Mal, dass Kriminelle ausgerechnet im Gefängnis zu Terroristen werden. Mitglieder der Attentäterzelle, die 2015 in Paris einen Anschlag verübte, lernten sich in einem französischen Gefängnis kennen. Harry S., ein Bremer Konvertit, der später nach Syrien ausreiste und sich dem IS anschloss, war wegen eines Überfalls ins Gefängnis gekommen und hatte sich dort radikalisiert – durch Kontakt zu einem Islamisten. Und der IS selbst hatte sich in einer Haftanstalt der US-amerikanischen Besatzer im Irak geformt.

Schafft sich der Rechtsstaat also gefährliche Gegner selbst, indem er sie inhaftiert? Der Tübinger Professor, Imam und Seelsorger Abdelmalek Hibaoui spricht im Interview darüber, warum junge Männer in Haft so empfänglich für Radikalisierung sind und welche Rolle Seelsorger spielen können.

Herr Hibaoui, die französischen Ermittlungsbehörden sind nicht sicher, ob der Attentäter von Straßburg wirklich als islamistischer Terrorist gehandelt hat. Aber sie gehen davon aus, dass er sich im Gefängnis radikalisiert hat. Würde Sie das überraschen?

Abdelmalek Hibaoui: Nein, das würde mich nicht überraschen. Wir kennen viele Fälle von Jugendlichen, die als Straftäter ins Gefängnis kamen und es als Radikale wieder verlassen haben.

Woran liegt das?

Abdelmalek Hibaoui lehrt als Professor an der Universität Tübingen am Zentrum für Islamische Theologie. Er hat dort den Lehrstuhl für Islamische Praktische Theologie (Seelsorge) inne, betreut einen Masterstudiengang zu Islamischer Seelsorge und arbeitet mit seinen Studenten unter anderem mit der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim zusammen. Er hat in Marokko studiert und promoviert und in Marokko und Deutschland als Imam gearbeitet.

Das sind Jugendliche, die sich verloren fühlen. Sie haben erst einmal nichts mehr zu verlieren, wenn sie im Gefängnis sitzen. Die meisten haben wenig Zugang zum Glauben, wenig religiöse Bildung und sind in dieser Lage sehr leicht zu beeinflussen. Gerade, wenn sie dort auf Menschen treffen, die ihnen eine Identität und Anerkennung anbieten. Die sagen, du bist Opfer, andere tragen Schuld, und wir sagen dir, wie du gereinigt hier rauskommst. Wenn man nichts mehr zu verlieren hat, ist man bereit, alle Angebote anzunehmen.

Wäre es dann nicht besser, kriminelle Jugendliche so lange es geht aus dem Gefängnis herauszuhalten, weil sie dort immer auf Strukturen treffen, die Radikalisierung befördern?

Dazu kann ich kompetent nichts sagen. Ich kann nicht sagen, ob Menschen in Haft kommen sollen oder nicht. Sicher sind sie dort besonders verwundbar. Ich weiß nur: Wenn Jugendliche ins Gefängnis kommen, dann müssen wir ihnen Angebote machen. Dann müssen wir schneller reagieren als Radikale, die im Gefängnis rekrutieren. Ich kümmere mich um die Frage, was man diesen Jugendlichen anbietet, wenn sie schon im Gefängnis sind.

Und was ist das?

Um eine Chance auf Prävention zu haben, braucht es muslimische Seelsorger, die sie begleiten. Die helfen, Glaubensfragen zu beantworten, die sie innerlich beschäftigen. Die zuhören. Wenn wir so etwas haben, bekommen Menschen die Möglichkeit, ihre Religiosität anders zu leben.

Welche Rolle spielt Religion im Gefängnis? Sind Häftlinge besonders ansprechbar für Religion?

Immer wenn es um Schuldgefühle geht, spielt Religion eine Rolle. Hier geht es um Straftäter, da kommen schnell Fragen auf: Werde ich von Gott für meine Tat bestraft? Wie kann ich mich von der Sünde reinigen? Wie rechtfertige ich meine Tat? Der Attentäter aus Straßburg würde wahrscheinlich auf die Frage, warum er das getan hat, eine religiöse Antwort geben. Man muss solchen Menschen auf einer religiösen Ebene begegnen. Präventiv, aber auch als Versuch der Deradikalisierung, wenn sie schon radikalisiert sind.

Man hört immer wieder von jungen Männern, die lange nicht aktiv religiös waren und erst im Gefängnis zur Religion finden. Bräuchten die nicht eher eine säkulare Ansprache, ein nicht religiöses Angebot?

Das eine schließt das andere nicht aus. Natürlich braucht es auch nicht religiöse Angebote, aber wenn ich sehe, dass religiöse Radikalisierung in Gefängnissen eine Tatsache ist, wird religiöse Bildung notwendig. Religion ist eben präsent. Sie ist eine Tatsache. Viele muslimische Gefangene sind irgendwie religiös geprägt, auch wenn sie vorher nicht religiös gelebt haben, aber diese Wurzel ist meistens da. Deshalb braucht es da eine Ansprache. Religion ist eine Kerze: Man kann einen Raum erleuchten oder verbrennen.

Wie sieht solche Arbeit konkret aus?

Sie fängt in der Predigt an. Wenn ich mitbekomme, dass bestimmte Koran-Verse missbraucht oder radikal ausgelegt werden, dann würde ich sie in meine Predigt einbauen, um den Kontext zu erklären. Da beginnt Aufklärung und Bildung. Dazu kommen Gruppengespräche, um andere Themen zu diskutieren, in denen Gefangene auch aktiv mitmachen können. Und natürlich Einzelgespräche.

Woran erkennt man denn, dass jemand beginnt, sich zu radikalisieren? Was sind Warnsignale? Und was ist nur unproblematische Religiosität in einer schweren Situation?

Man kann das nicht einfach an bestimmten Verhaltensweisen erkennen, nicht an Essensvorschriften oder Kleidung, aber im Gespräch bekommt man ein sehr gutes Gefühl dafür. Das kann man leichter entdecken als man denkt. Vorausgesetzt, Seelsorger haben die nötigen theologischen, psychosozialen, interkulturellen, interreligiösen und sprachlichen Kompetenzen, um eine Wirkung zu erzielen. Es gibt zwar Imame, die sich als Seelsorger verstehen, aber zum Beispiel kein Deutsch sprechen. Damit fehlt ihnen ein entscheidender Zugang. Wenn man aber ins Gespräch kommt, merkt man meist schnell, welches Islamverständnis jemand hat, ob jemand zwischen Gläubigen und Ungläubigen unterscheidet, ob er mit bestimmten Koran-Versen Gewalt legitimiert, ob er sich auf bestimmte Theologien bezieht wie von Ibn Taimiya oder Muhammad ibn Abd al-Wahhab, ob er vielleicht den IS erwähnt. Auch das Verhalten gegenüber Menschen spielt eine Rolle, Nonverbales – hat jemand Blickkontakt?

Wenn Seelsorger nun eindeutige Hinweise auf Radikalisierung entdecken, müssten sie ja andere Stellen einschalten, wenn sie selbst keinen Einfluss nehmen können. Beißt sich das nicht mit der Rolle als Vertrauensperson?

Das ist in der Tat eine heikle Frage, weil natürlich eine Schweigepflicht besteht, auch wenn es im Islam keine klare Struktur dazu gibt wie im Christentum. Aber ich würde sagen, wenn jemand einen Anschlag plant, das vielleicht sogar offen sagt, bin ich moralisch in der Pflicht, das an die zuständige Person weiterzugeben.

Sind Sie selbst auch als Seelsorger aktiv?

Ich habe Einzelgespräche durchgeführt und werde ab Januar in Stuttgart auch ehrenamtlich anfangen, wie momentan alle muslimischen Gefängnisseelsorger. In Deutschland gibt es etwas mehr als 100 Imame, die in Gefängnissen Seelsorge machen, aber die meisten von ihnen haben keinerlei Ausbildung dafür und alle arbeiten ehrenamtlich. In Tübingen gibt es den meines Wissens ersten Masterstudiengang in islamischer Seelsorge in Westeuropa, aber das Problem ist, dass es keine festen hauptberuflichen Stellen gibt, nur einige Modellprojekte auf Stundenbasis. Das brauchen wir aber, auf Dauer reichen ehrenamtliche Seelsorger nicht.

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Wie viele bräuchte man denn?

Jeder fünfte Inhaftierte hat einen muslimischen Hintergrund, das zeigt jedenfalls: Wir brauchen sehr dringend sehr viele Seelsorger. Schon allein, weil sie Betreuung brauchen. Aber auch wegen der Gefahr der Radikalisierung der Häftlinge.

Verwendete Quellen
  • Profil Hibaouis auf der Website der Universität Tübingen
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