EU-Austritt dominiert Neuwahlen May will mehr Macht für den Brexit-Poker
Großbritannien kämpft vier Wochen vor der Neuwahl mit einem Berg von Problemen: Die Brexit-Gespräche werden schwer, das Gesundheitssystem steht vor dem Kollaps, die Schotten streben die Unabhängigkeit an.
Parlamentswahl im Jahr 2015. Brexit-Referendum 2016. Und nun eine Neuwahl am 8. Juni. Viele Briten sind von drei landesweiten Abstimmungen in so kurzer Zeit genervt. Politikwissenschaftler sprechen bereits von einem "Brenda-Effekt": Als ein BBC-Reporter die Rentnerin Brenda Parsons im März fragte, was sie von der gerade angekündigten Neuwahl halte, kreischte sie überrascht: "Sie machen Witze, nicht noch eine. ... Ich kann das nicht mehr ertragen!" Das Video wurde zum Hit in sozialen Netzwerken.
Viel Zeit für einen Wahlkampf bleibt nicht. Klar ist aber schon jetzt: Die Konservativen um Premierministerin Theresa May liegen in den Umfragen weit vorn. Bei einigen Aufregerthemen versuchen die Parteien, auf den letzten Metern noch Stimmen zu gewinnen.
Brexit
May will sich mit der Neuwahl den Rücken für die Verhandlungen zum EU-Austritt ihres Landes stärken. Sie strebt einen harten Brexit an: also auch den Ausstieg aus dem Europäischen Binnenmarkt und der Zollunion und die Loslösung von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes. Aber will sie das wirklich? Simon Hix von der London School of Economics and Political Science (LSE) zweifelt daran. Denn selbst viele Konservative sind gegen die Scheidung von der EU. "Ein weicherer Brexit würde diese Menschen zufriedenstellen", sagt Hix. Mit einer komfortablen Mehrheit bei der Neuwahl hätte May mehr Spielraum bei den Brexit-Verhandlungen und würde auch Hardliner in den eigenen Reihen besser im Griff haben.
Mit ihrer Haltung zum Brexit steuert die oppositionelle Labour-Partei auf ein historisches Tief zu. Es wimmelt dort nur so von "Remainern", die in der EU bleiben wollen. Doch ihr umstrittener Chef Jeremy Corbyn schwor alle darauf ein, die Regierung beim Brexit zu unterstützen - damit brachte er seine Arbeiterpartei mächtig ins Trudeln. "Viele ehemalige Labour-Wähler trauen ihrer eigenen Partei nicht mehr. Sie wissen nicht, wofür ihre Partei noch steht", so Hix. Anders dagegen die Liberaldemokraten: Sie sind - neben den praktisch bedeutungslosen Grünen - die einzige landesweite Partei, die offensiv für einen Verbleib im Europäischen Binnenmarkt wirbt. Die Liberalen wollen sogar ein zweites Brexit-Referendum. Dafür könnten sie nach Prognosen viele Stimmen von Brexit-Gegnern dazugewinnen.
Immigration
Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Kampf um Schulplätze - viele Briten machen die EU-Ausländer im Land dafür verantwortlich. Über drei Millionen leben im Vereinigten Königreich, die meisten sind Polen. Die Konservativen wollen mit der Trennung von der EU wieder Kontrolle über die Einwanderung gewinnen. Das steht ganz oben auf der Prioritätenliste bei den Brexit-Verhandlungen. Kritiker fürchten, dass künftig Experten aus der EU - etwa Ärzte und Forscher - und Billig-Arbeitskräfte wie Erntehelfer in Großbritannien fehlen werden.
Auch die EU-feindliche, rechtspopulistische Ukip-Partei geht mit der Forderung nach weniger Ausländern auf Stimmenfang. Parteichef Paul Nuttall legte nach: Muslimische Frauen sollten keine Burkas und Nikabs mehr in der Öffentlichkeit tragen, forderte er mit Blick auf Terrorgefahren. Als Nuttall als ausländerfeindlich kritisiert wurde, verglich er sich mit dem indischen Freiheitskämpfer Gandhi: "Erst lachen sie über dich, dann attackieren sie dich und dann gewinnst du." Die zerstrittene Partei bekam 2015 nur einen Parlamentssitz.
Soziales
Mehr Sozialwohnungen, bessere Versorgung der Rentner, höhere Steuern für Reiche - die Arbeiterpartei Labour setzt auf soziale Themen. Gleich vier neue landesweite Feiertage versprach Corbyn bei einem Wahlsieg - weil sich das die Bevölkerung verdient hätte und so auch mehr Einigkeit unter den britischen Landesteilen hergestellt werden könnte. Die Feiertage sollen sich an den Schutzheiligen Englands, Schottlands, Wales' und Nordirlands orientieren. Zur Finanzierung äußerte sich Corbyn nicht.
Labour will auch das marode Gesundheitswesen auf Vordermann bringen. Dem staatlichen Gesundheitsdienst National Health Service (NHS) droht der Kollaps. Der Chef des Britischen Roten Kreuzes, Mike Adamson, sprach sogar von einer "humanitären Krise". Krebspatienten warten nicht selten Monate auf einen Termin beim Facharzt, Schwerkranke liegen tagelang auf Klinik-Fluren, weil kein Zimmer frei ist. Corbyn setzt sich zudem für eine bessere Bezahlung von Ärzten und Pflegekräften ein, von denen viele vom EU-Festland stammen.
Schottland
Für die Schottische Nationalpartei (SNP) wird die Wahl zum Stimmungstest für das angekündigte Unabhängigkeitsreferendum. Zwischen Herbst 2018 und Frühjahr 2019 will Regierungschefin Sturgeon die Schotten über eine Loslösung von Großbritannien abstimmen lassen. Die Partei gewann bei der vergangenen Wahl im Jahr 2015 bereits 56 der 59 schottischen Abgeordnetensitze im Parlament in Westminster. Sollte sie mehr als nur ein paar Sitze an die Konservativen verlieren, könnte das als Votum gegen ein zweites Referendum interpretiert werden. Sturgeon gibt sich zuversichtlich.