Türkische Provokationen Deutschlands Dilemma
Der türkische Präsident Erdogan provoziert und exportiert seine Konflikte nach Westeuropa - weil ihm das im Wahlkampf nutzt. Die Niederlande eskalieren, Deutschland hält noch still. Und jetzt?
An diesem Wochenende war eindrücklich und betrüblich zugleich zu beobachten, wie man politische Konflikte massiv eskaliert, um dann aus dieser Eskalation Profit zu schlagen. So geschehen im Streit der Türkei mit den Niederlanden.
Weil die niederländische Regierung mit aller Macht Wahlkampfauftritte türkischer Minister verhinderte - dem Außenminister verweigerte man am Samstag die Landeerlaubnis, die Familienministerin schickte man nach Deutschland zurück - richtete die türkische Seite ihre Nazi-Vergleiche diesmal gegen die Niederlande. Präsident Recep Tayyip Erdogan drohte zudem mit Konsequenzen: "Sie werden den Preis dafür bezahlen", die Türkei habe noch nicht getan, was nötig sei.
Damit ist Erdogan übers Wochenende in den Niederlanden gelungen, was ihm in Deutschland bisher versagt blieb: Eine westeuropäische Regierung geht in die Gegenoffensive. Es folgen Proteste, Demonstrationen, die Polizei muss eingreifen. Ist es Zufall, dass auch in den Niederlanden Wahlkampf ist und die Regierung unter dem Liberalen Mark Rutte den Rechtsdraußen Geert Wilders abwehren muss? Wohl kaum.
Schub für Erdogans Wahlkampf
Für Erdogan jedenfalls könnte das der perfekte Sturm sein, um die eigenen Reihen zu schließen - und die Auslandstürken zu motivieren, ihm und seiner AKP im Verfassungsreferendum am 16. April eine - vielleicht knappe - Mehrheit zu bescheren. Es geht um die Einführung eines Präsidialsystems, das fast die gesamte Macht beim Staatspräsidenten, also Erdogan, bündeln würde.
Die deutsche Regierung verfolgt seit Wochen das Gegenmodell zur niederländischen Strategie: nur nicht provozieren lassen. Mehrere deutsche Kommunen haben Auftritte türkischer Minister untersagt, die Bundesregierung aber hält sich zurück.
Anfang der vergangenen Woche bezeichnete die Kanzlerin türkische Nazi-Vergleiche als derart "deplatziert", dass man sie "eigentlich gar nicht kommentieren" könne. Ende der Woche klang das dann schon ein klein wenig schärfer: Diese Vergleiche "müssen aufhören", sagte Angela Merkel im Bundestag.
Merkel setzt auf Risiko
Was aber, wenn nicht? In der Bundesregierung jedenfalls hoffen sie auf rhetorische Abrüstung nach der Abstimmung in der Türkei. Bis dahin gilt: Wie auch immer man's macht, man macht's verkehrt. Das ist Deutschlands Dilemma:
- Würde die Bundesregierung Wahlkampfauftritte türkischer Minister untersagen - wozu sie jedes Recht hat - dann triebe sie damit Erdogan wohl noch mehr deutsch-türkische Anhänger in die Arme.
- Lässt sie den Wahlkampf auf deutschem Boden zu, spaltet das die deutsch-türkische Community, und sie riskiert den Import des türkischen Konflikts nach Deutschland.
Merkel scheint bereit zu sein, das Risiko des Konflikts einzugehen. Die Niederlande dagegen haben sich für die andere Variante entschieden. Das zeigt dieses Wochenende. Eine Mehrheit der Deutschen unterstützt derzeit Merkels Kurs: 62 Prozent der Bundesbürger finden, dass die Regierung auf die Provokationen aus Ankara gelassen reagieren sollte, 29 Prozent fordern hingegen Einreiseverbote für türkische Politiker. Das ergab eine Emnid-Umfrage für "Bild am Sonntag".
Außenpolitik müsse nun mal oft zwischen zwei schlechten Optionen wählen und abwägen, erklärt Niels Annen, der außenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion Deutschlands Erdogan-Dilemma.
Suche nach Gegenmaßnahmen
Er unterstützt dabei Merkel: Die "schrecklichen Bilder" aus den Niederlanden zeigten, dass es klug sei, wenn Deutschland weiterhin besonnen reagiere. Denn die Eskalation sei "ein Kalkül der Regierung in Ankara", so Annen zum "Spiegel". Klar: Solange es keine fairen Bedingungen in der Türkei gebe, sollten AKP-Politiker auf Wahlkampf in Deutschland verzichten, fordert der Außenpolitiker: "Aber wir sollten es ihnen nicht verbieten."
Andernorts wachsen dagegen Ungeduld und Empörung, man sucht nach Gegenmaßnahmen:
- Innenminister Thomas de Maizière hat sich klar gegen Wahlkampfauftritte türkischer Politiker in Deutschland ausgesprochen. "Ich will das nicht. Ein türkischer Wahlkampf in Deutschland hat hier nichts verloren", sagte er der ARD. De Maizière wertet die scharfen Töne aus der Türkei als Schwäche. Deutschland dürfe sich nicht beeindrucken lassen. Auf mögliche Reaktionen legte sich der CDU-Politiker jedoch nicht fest. "Ob man jetzt Einreiseverbote verhängt, das muss man klug abwägen", so de Maizière.
- CDU-Mann Norbert Röttgen, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, sieht in der gegenwärtigen Entwicklung auch eine Argumentationshilfe gegen den Doppelpass: "Die doppelte Staatsbürgerschaft hat sich nicht bewährt", sagte er dem "Spiegel": Kinder von Migranten sollten sich mit 21 Jahren für eine Nationalität entscheiden müssen.
- In der CSU wollen sie die EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei entweder einfrieren (Parteivize Manfred Weber) oder abbrechen (Generalsekretär Andreas Scheuer).
- CSU-Außenpolitiker Florian Hahn wünscht neuerlich den Abzug der Bundeswehr-Tornados aus dem türkischen Incirlik, Linken-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht und Grünen-Chef Cem Özdemir tun es ihm gleich.
- Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) sieht nach der Inhaftierung des "Welt"-Korrespondenten Deniz Yücel derzeit keinen Spielraum für einen Ausbau der Wirtschaftskontakte mit der Türkei, das machte er im ZDF deutlich.
- Und die FDP feiert das Vorgehen des niederländischen Ministerpräsidenten Rutte via soziale Netzwerke.
Wird also Merkel bis zum Tag des türkischen Referendums ihren Kurs halten? Davon ist trotz aller Anfechtungen auszugehen. Wird dies türkische Wahlberechtigte in Deutschland von einer Stimme für Erdogans Verfassungsreform abhalten? Unklar. Nur eines scheint absehbar zu sein: Nach der Abstimmung am 16. April wird sich etwas ändern.
Möglicherweise werde sich dann die Lage wieder entspannen, meint SPD-Politiker Annen. Möglich aber auch, "dass sich unsere Beziehungen zur Türkei grundlegend verändern, wenn das Land eine De-facto-Diktatur würde". Das Verhältnis beider Staaten entwickelte sich "kühler und weniger freundschaftlich". Und es wäre, sagt Annen, das Ende des EU-Beitrittsprozesses.
Die zweite Variante ist im Moment die wahrscheinlichere.