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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Erdogan bald Alleinherrscher? Oppositionsführer sieht Türkei auf dem Weg zur Diktatur
Kurz nach der Rücktrittsankündigung des türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu kochen die Emotionen hoch. Das Ziel Erdogans scheint klar: Er will nichts weniger als die Alleinherrschaft.
Der türkische Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu befürchtet im Falle eines Wechsels im Amt des Regierungschefs eine Ausweitung der Macht von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. Der Rücktritt des Ministerpräsidenten führe zu einer "Bekräftigung der Diktatur in der Türkei", sagte Kilicdaroglu in Ankara.
Der "Verräter", der Erdogan schwächen wollte
"Erdogan möchte einen Ministerpräsidenten, der ihm zu hundert Prozent gehorcht." Davutoglu hatte heute im Machtkampf mit Erdogan seinen Rücktritt als AKP-Vorsitzender angekündigt. Damit macht er auch den Weg für einen Wechsel an der Regierungsspitze frei.
Kilicdaroglu, Chef der Mitte-Links-Partei CHP, sagte, Erdogan habe immer wieder Druck auf Davutoglu ausgeübt. "Erdogan wollte nie, dass Davutoglu außerhalb des Willens des Staatspräsidenten agiert."
Tagelang hatten Erdogans engste Anhänger den scheidenden Ministerpräsidenten sturmreif geschossen. Ihr Verdacht: Der 57-jährige "Verräter" habe versucht, Erdogan zu schwächen.
Aufhebung der Gewaltenteilung?
Erdogan und seine islamisch-konservative AKP streben seit geraumer Zeit den Umbau der Türkei hin zu einem Präsidialsystem an. Ähnlich wie im Russland des Wladimir Putin hätte darin er als Präsident – und nicht mehr der Regierungschef oder das Parlament – weitgehende Machtbefugnisse. Den Umbau des Staates hatte Davutoglu eigentlich vorbereiten sollen.
De facto würde er Erdogans Alleinherrschaft zementieren. Der hat die Gewaltenteilung praktisch schon jetzt ausgehebelt: So werden Richter und Staatsanwälte, die in Erdogans Sinne "falsche" Urteile fällen oder gegen seine Leute ermitteln, strafversetzt, oder in manchen Fällen sogar selbst angeklagt. Ähnlich ergeht es der Presse.
Im Parlament will er zudem einer großen Zahl vor allem kurdischer Abgeordneter die Immunität entziehen lassen, um sie wegen Unterstützung des Terrorismus anklagen zu können – ein Kurs, auf dem sich Erdogan immer weiter von der EU entfernt.
"Wir akzeptieren kein Präsidialsystem"
Auch der scheidende Ministerpräsident Davutoglu strebt ein Präsidialsystem an - allerdings in deutlich weniger rigoroser Ausformung: So betont Davutoglu die Notwendigkeit strikter Gewaltenteilung und einer unabhängigen Justiz, während Erdogan offenbar die totale Kontrolle will. Immer wieder hatte Davutoglu Erdogans Pläne kritisiert. Jetzt hat er aufgegeben.
Kilicdaroglu schloss eine Zustimmung zum Präsidialsystem kategorisch aus. "Wir akzeptieren kein Präsidialsystem, unter keinen Umständen."
Er kritisierte, Erdogan sei inzwischen "ein Diktator". Die EU forderte der CHP-Vorsitzende auf, sich auch im eigenen Interesse für eine Demokratisierung und für eine Vollmitgliedschaft seines Landes einzusetzen. "Eine Türkei, die im Sumpf des Nahen Ostens versinkt, würde auch der EU schaden", warnte er.
Dass Davutoglu nun abtritt, gilt auch als Rückschlag für die EU und besonders für Bundeskanzlerin Angela Merkel. Bei den EU-Gipfeln in Brüssel war Davutoglu das auf Kompromiss bedachte, stets lächelnde Gesicht der Türkei - während Erdogan polternd mit der Öffnung der Grenzen drohte.