Spiegel.TV-Doku "Inside IS" Die Barbarei hat ein Ziel - der "Heilige Krieg" um Macht
Von Alexander Reichwein.
Sie kreuzigen Gefangene, versklaven Frauen und sprengen Menschen auf Marktplätzen in die Luft. Was nach steinzeitlicher Barbarei und willkürlichem Fanatismus im Namen des Islams aussieht, ist für die Macher einer Dokumentation zum IS eiskalt kalkulierter und strategisch eingesetzter Terror. Und die Planer verfolgten nur ein Ziel: die absolute Macht für einen Islamischen Staat.
Ob Stellungskampf um Kobane, Gräueltaten an der Zivilbevölkerung und gefangen genommenen Regierungssoldaten oder Zerstörung von Kulturstätten: Der IS-Terror zeichnet sich durch unbarmherzige Brutalität und anscheinende Willkür aus. Aber: Hinter öffentlichen Enthauptungen, Massenerschießungen und Folter steckt offenbar ein perfider Plan.
Das legen handschriftliche Dokumente nahe, die als Strategie im Kampf gegen Muslime im eigenen Staat und gegen "Ungläubige" im Westen gleichermaßen verstanden werden können. Diese Papiere, die ein Reporter-Team um Christoph Reuter von "Spiegel.TV" einsehen konnte, beschreiben das "innerste Innenleben des IS". Und dessen Ziele.
Und sie zeugen von einem perfekt organisierten und durch modernste Propaganda medienwirksam inszenierten Terror, der den IS diesen Zielen näherbringen soll. Doch: Wer steckt hinter dem Masterplan? Wie sieht die Befehlsstruktur aus? Und welche Ziele verfolgen die Islamisten?
Strategischer Kopf hinterlässt Vermächtnis
Kämpfer der Freien Syrischen Armee fanden im Januar 2014 die bis dato geheimen IS-Dokumente in einem Haus im türkisch-syrischen Grenzgebiet bei Tall Rifat. Dort lebte der Iraker Haji Bakr seit 2012 nahezu unbehelligt unter falscher Identität, bevor er bei einem Anti-IS-Einsatz entdeckt und erschossen wurde. Bakr galt als der strategische Kopf des IS, für Reuter das "Hirn des Terrors", und war der zweite Mann hinter dem religiösen Führer Abu Bakr al-Baghdadi, der im Juni 2014 das Kalifat ausgerufen hat.
Wer war Haji Bakr? Er diente als hoher General der irakischen Luftwaffe und war Geheimdienstoffizier unter Saddam Hussein. Wie viele andere aus dem Umfeld des 2003 durch den Dritten Golfkrieg entmachteten und getöteten irakischen Diktators geriet auch Bakr anschließend in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Entlassung war er arbeitslos, frustriert und voller Hass auf den Westen. Dieser hatte mit zwei nachträglich als solchen aufgedeckten Lügen - einem irakischen Massenvernichtungswaffen-Programm und der Unterstützung von Al-Kaida - den Krieg gerechtfertigt. Die Sunniten, in Saddams Diktatur einst reich an Ämtern, Einfluss und Geld, waren vollkommen entmachtet - und fühlten sich betrogen.
Hinzu kamen die Schikanen des von den USA eingesetzten schiitischen Regimes von Präsident Nuri al-Maliki und seiner Armee gegen die Sunniten und deren brutale Unterdrückung. Später werden massenweise Sunniten zum IS überlaufen. All das endete in einem blutigen Bürgerkrieg, dem Schätzungen zufolge Tausende Menschen zum Opfer fallen. Es ist ein bis heute andauernder Krieg, der den einst stabilen Irak ab 2003 ins absolute Chaos stürzte, das auch die US-Truppen nicht mehr in den Griff bekamen - und später aus dem Zweistromland abziehen sollten. Diese Entwicklungen befeuerten aber auch Bakrs Rachegelüste - und seine Pläne, einen Staat nach seinen Vorstellungen zu schaffen.
IS ist attraktiv
Für die "Spiegel-TV"-Experten ist dank der Dokumente nicht nur die Organisationsstruktur des IS, sondern auch die Geburtsstunde des Terrors zu rekonstruieren - und der Erfolg der Dschihadisten zu erklären: Die Lehre von Bakr und anderen ehemaligen Saddam-Getreuen sei schnell gezogen gewesen: Sie mussten den jungen Menschen etwas Neues und Attraktives anbieten und sie auf eine Linie einschwören: Die Entmachtung alter korrupter Eliten, der Kampf gegen den Westen und die Gründung eines Islamischen Staates.
Und der IS sei attraktiv, weil er vielen jungen Menschen, die sich selbst als Verlierer der Gesellschaft oder Zeit ansehen, etwas anzubieten vermöge: eine Heimat, eine Aufgabe und Macht über Leben und Tod. Das Ergebnis, so Reuter, sei die "nukleare Verschmelzung" zweier gefährlicher Gruppen: Den kühl berechnenden Technokraten auf der einen Seite, die Macht haben und wissen, wie man diese erweitert. Und jenen willfährigen und blind gehorchenden fanatischen Kämpfern auf der anderen Seite, die bereit sind, in den Tod gehen. So wachse der Zulauf zum IS in atemberaubender Geschwindigkeit. Der Staat sei seit 2010 auf eine Fläche so groß wie Großbritannien angewachsen und mehr als 40.000 Kämpfer setzten Bakrs Pläne um.
Denn auch wenn der zweite Kopf des IS tot ist, hätten die Milizen seine Strategie verinnerlicht und gäben diese an neue Kämpfer weiter. Und die verfolgten die ihnen aufgetragenen Aufgaben - wenn es sein muss bis in den Tod.
Islam spielt keine Rolle
Für Reuter steht fest: Der IS hat nichts mit Religion und schon gar nichts mit dem Islam zu tun, und es gehe auch in Bakrs Dokumenten nicht um Überweltliches. Der IS benutze lediglich den Glauben und verheiße seinen Kämpfern, die nicht immer gläubig seien oder den Koran kennen würden, das Paradies.
Diese gezielt eingesetzte Gehirnwäsche, verbunden mit einer eigenen Interpretation des Koran und Islam, führten zu einer Radikalisierung und einem ungebrochenen Kampf- und Todesbereitschaft der selbsternannten Heiligen Krieger, die alles täten, was man ihnen befehle. Dazu gehöre, so Reuter, auch das Töten von Glaubensbrüdern. Und die wie Kanonenfutter für die Ziele der Strategen eingesetzt würden.
Namen, Kommandostrukturen, Todeslisten
Für Reuter zeugen die Dokumente auch davon, dass die IS-Führung alles im Vorfeld durchdenke und arrangiere. Und dabei gehe es um mehr als Ölquellen im Irak, Lösegeld für ausländische Journalisten oder die Verteidigung strategisch wichtiger Städte.
Bakr hat alles aufgeschrieben und in Statistiken und Graphiken festgehalten: Namens- und Todeslisten, Kommandostrukturen und Aufgabenverteilung zwischen Führungsriege und Befehlsempfängern sowie das Ziel des IS.
Die IS-Milizen nehmen Dorf um Dorf und Stadt um Stadt im Irak und in Syrien ein. Dabei gingen sie laut Reuter sehr strategisch vor - und genau nach Bakrs Plan: Zunächst würden sie die Verhältnisse vor Ort ausloten: Wer hat Macht und Einfluss? Wer steht politisch wo? Und wer hat Geld? Die Spionage erfolge über Missionierungsbüros, in denen Prediger und Geistliche beim gemeinsamen Beten und Lesen des Koran das Vertrauen der einheimischen Bevölkerung gewinnen.
Die Infiltrierung der Bevölkerung durch den IS und dessen Agenten gehe aber noch weiter: Männer heirateten in Clans und Familien ein. So seien die lukrative Beteiligung an Geschäften und Firmen sowie Grund und Boden gesichert. Gegner und Konkurrenten würden als Problem identifiziert, als ungläubig oder homosexuell diskreditiert und beseitigt. So verbreite der IS Angst und Schrecken, um die Menschen gefügig zu machen.
"Universales Konzept zur Machtergreifung"
Das kurzfristige Ziel sei die Entmachtung alter Eliten und Anführer, die man nicht auf die eigene Seite ziehen könne und daher töte. Außerdem wolle der IS möglichst viele Mitläufer gewinnen und die Macht Vor Ort übernehmen. Reuter nennt dieses durch und durch geplante Vorgehen ein "universelles Konzept zur Machtergreifung", das man auch aus anderen Zusammenhängen kenne.
Und auch die vielen jungen Dschihadisten, die aus Deutschland, Frankreich oder Russland nach Syrien reisen, würden bestens umkümmert. Ausländische IS-Einheiten würden, das legten die Dokumente nahe, von jeweiligen Landsleuten ausgebildet und geführt. Sie erreichten die Männer und Frauen mit ihrer radikalen Ideologie in der vertrauten Sprache.
Ziel: Der totale Überwachungsstaat
Dahinter steht für Reuter das langfristige und entscheidende Ziel der IS-Führung: der absolute Überwachungsstaat "wie unter Hitler, Stalin und Saddam", in dem sich alle politischen Akteure gegenseitig überwachen. Und dieser Staat baue wie jedes totalitäre System auf Terrorherrschaft und Angst auf.
Westen nicht vorbereitet
Tausende Menschen in Syrien, im Irak, im Libanon oder in Libyen sind dem IS-Terror bereits zum Opfer gefallen. Die kurdischen Peschmerga im Nordirak und die kurdischen Volksverteidigungs-Einheiten (YPG) in Syrien sind offenbar militärisch zu schwach, um den gut ausgerüsteten IS zu besiegen, der neben Waffenlieferungen aus dem Ausland auch immer wieder Kriegsgerät von Regierungstruppen erbeutet. Und der Westen, längst im Fadenkreuz der Islamisten, wirkt hilflos und militärisch überfordert.
Syrische Kurden sind sich sicher: Die Türkei und der syrische Präsident Baschar al-Assad haben kein Interesse, den IS zu bekämpfen, sagen sie am Ende der Dokumentation. Und so machen sich die kurdischen Kämpferinnen und Kämpfer Mut vor der nächsten Schlacht mit ihrem Lied: "Ich bin Kurdistan, die Braut der Welt. Ich bin der Ort der Helden und der Kämpfer."