Luftraum-Verletzung Russischer Pilot erfasste türkische Jets mit Gefechtsradar
Der Zwischenfall über der Türkei war offenbar gefährlicher als bisher bekannt. Ein russischer Kampfjet ist nicht nur in den Luftraum eingedrungen, sondern hat auch zwei Abfangjäger mit seinem Radar erfasst.
Begegnungen zwischen Kampfflugzeugen Russlands und der Nato gehören über Nord- und Ostsee, dem Atlantik oder dem Schwarzen Meer fast schon zum Alltag. Doch der jüngste Vorfall hatte offenbar eine neue Dimension: Ein russischer Kampfjet hat nach Angaben der türkischen Armee zwei türkische F-16-Abfangjäger minutenlang mit seinem Gefechtsradar erfasst. Dieses "Beleuchten" ist der letzte Schritt vor dem Waffeneinsatz.
Die Nato hat das als "verantwortungslos" und "extrem gefährlich" bezeichnet - zu Recht, wie Experten meinen. "Das Erfassen eines Flugzeugs mit dem Gefechtsradar ist absolut ungewöhnlich und ein extrem unfreundlicher Akt", sagt Marcel Dickow, Experte für Sicherheitspolitik bei der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).
Dringt ein Flugzeug in den Luftraum eines Landes ein, stellen Abfangjäger üblicherweise zunächst Funkkontakt her. Hat das keinen Erfolg, nähert man sich dem Eindringling und gibt Zeichen. "Aber wenn man vom Radar beleuchtet wird, schrillen sofort die Alarmglocken", sagt Dickow.
Hinzu kommt, dass die russische Suchoi Su-30 die beiden türkischen Jets fast sechs Minuten lang erfasst haben soll - eine extrem lange Zeit. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg wollte den Radar-Einsatz zwar nicht offiziell bestätigen. Doch er zweifelte die russische Darstellung an, wonach die Verletzung des türkischen Luftraums ein Versehen war. "Das sieht nicht nach einem Missgeschick aus", sagte Stoltenberg am Dienstag im Brüsseler Nato-Hauptquartier.
SWP-Experte Dickow vermutet "das alte Spiel aus dem Kalten Krieg: Man versucht durch aggressives Verhalten herauszufinden, wie die Gegenseite reagiert".
Alarmsignal im Cockpit
Das Radar an Bord eines Kampfjets verfügt, grob gesagt, über zwei Modi: Im Suchmodus wird ein großer Teil des Himmels gescannt, im Verfolgungsmodus können einzelne Ziele verfolgt werden. In letzterem Fall löst der Radar Warning Receiver (RWR) im erfassten Flugzeug Alarm aus. "Das bedeutet, dass der Abschuss einer Rakete unmittelbar bevorstehen könnte", erklärt Luftwaffenexperte Justin Bronk vom Londoner Royal United Services Institute. "Die türkischen Piloten haben wahrscheinlich unter Stress versucht, die Quelle zu identifizieren."
Dies könne entweder durch passive Erkennung erfolgen, oder indem man sein eigenes Gefechtsradar auf den Eindringling richtet. "Das dauert von einigen Sekunden bis hin zu mehreren Minuten", sagt der italienische Militärluftfahrt-Experte David Cenciotti. Es sei "zweifellos" eine gefährliche Zeitspanne gewesen.
Zwar gibt es seit Mai 2015 wieder einen direkten Draht zwischen der Nato und dem russischen Militär. Der aber wurde bei dem jüngsten Vorfall nicht genutzt, wie Stoltenberg andeutete. Ohnehin hätte eine solche "Hotline" einen Schusswechsel zwischen dem russischen und den beiden türkischen Kampfjets womöglich nicht verhindern können - denn in einem solchen Moment hängt alles von den Einsatzregeln für die Piloten ab.
Angst vor Schusswechsel mit den Russen
"Wenn die Regeln vorschreiben, dass man auf Befehle warten muss, dann wartet man", erklärt Cenciotti. "In der Zwischenzeit versucht man, sich aus der Radar-Erfassung herauszuwinden oder den Gegner selbst zu erfassen." Allerdings: Der russische Pilot konnte die Regeln, unter denen die Türken operieren, nicht kennen. "Sie hätten auch eine Rakete abfeuern können", so Cenciotti.
Bronk sieht das ähnlich: "Angesichts der Tatsache, dass schon syrische Kampfflugzeuge und Drohnen im türkischen Luftraum abgeschossen wurden, war ein Waffeneinsatz durch die türkische Seite möglich."
Der Vorfall im türkischen Luftraum lässt Gefahren für den syrischen Luftraum befürchten - auch dort könnten sich äußerst heikle Situationen ergeben. Denn während die USA gemeinsam mit fünf arabischen Staaten den "Islamischen Staat" bombardieren, greift die Türkei zusätzlich die kurdische Arbeiterpartei PKK und ihren syrischen Ableger PYD an. Die Russen dagegen attackieren laut Stoltenberg nicht wie angekündigt den "Islamischen Staat", sondern "die syrische Opposition und Zivilisten". Russland weist das zurück.
Nach russischen Angaben fliegen derzeit mehr als 50 Flugzeuge und Helikopter insgesamt 20 bis 25 Missionen pro Tag - etwa dreimal so viel wie die US-geführte Allianz. Hinzu kommt, dass die Russen auch Flugabwehrraketen in Syrien stationiert haben.
Um in dieser unübersichtlichen Lage folgenschwere Missverständnisse zu verhindern, verlangte das US-Verteidigungsministerium bereits vergangene Woche von den Russen, ihre Einsätze mit den Alliierten abzusprechen. Doch darauf wartet der Westen offenbar noch immer, denn Stoltenberg forderte am Dienstag erneut die sogenannte "deconfliction" des syrischen Luftraums. "Das ist die Minimalanforderung", sagte der Nato-Chef. "Wir nehmen das sehr ernst."