"Nächte sind sehr beängstigend" Israels Bürger greifen zu den Waffen
Seit den Hamas-Angriffen ist in Israel die Nachfrage nach Waffenscheinen gestiegen. Unterstützung gibt es vom Sicherheitsminister.
In Israel sind zunehmend bewaffnete Bürger auf der Straße zu sehen. Zum Einkaufen wird auch mal ein Sturmgewehr mitgenommen, auch beim Mittagessen am Imbiss sitzt die Pistole an der Hüfte. Seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober ist die Zahl der Lizenzen für Waffen, die an Bürger ausgegeben werden, drastisch gestiegen.
In den zwei Monaten waren es 20.000 Erlaubnisscheine, die ausgestellt worden sind. Insgesamt liegen der zuständigen Behörde mittlerweile 250.000 Anträge vor. Mit 60 neuen Mitarbeitern will man dort die Antragswelle abarbeiten, so die israelische Zeitung "Haaretz".
"Ich habe sechs Kinder, und nach dem Vorfall vom 7. Oktober habe ich verstanden, dass ich mich schützen muss", sagte Shimrit Ben Arosh, der im Westjordanland lebt, der Zeitung. "Die Nächte sind sehr beängstigend, und deshalb wollte ich einen Waffenschein machen, um sicher zu sein und meine Kinder zu schützen". Aber auch in Jaffa an der Mittelmeerküste sind Waffen in der Öffentlichkeit Normalität. Amitai Turkel und seine Frau Oriya sagten dem US-Radiosender NPR, sie fühlten sich mit einem Gewehr sicherer und ruhiger. Turkel ist auch einer der Hunderttausenden Reservisten.
Schwer bewaffnete Soldaten gehören schon lange zum Straßenbild in Israel. Seitdem es immer wieder Selbstmordanschläge von palästinensischen Terroristen gab, ist man ständig auf der Hut. Zuletzt hatte es in Jerusalem einen Anschlag gegeben. An einer Bushaltestelle hatten zwei Angreifer das Feuer eröffnet. Sie wurden von Soldaten und einem bewaffneten Zivilisten erschossen. Allerdings wurde der Zivilist später von den Soldaten irrtümlich erschossen.
Sicherheitsminister forciert Recht auf Waffen
Offenbar setzt die israelische Regierung zunehmend auf zivile Kräfte. Es wird befürchtet, dass es weitere Attentate im Land geben könnte. "Als der Krieg begann, wussten wir, dass wir recht hatten, als wir sagten, dass jeder Mensch, der eine Waffe hat, ein Leben retten kann", sagte der israelische Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, zu Beginn der Sitzung seiner Otzma Yehudit-Fraktion vergangene Woche. "Wir müssen so vielen Menschen wie möglich ermöglichen, eine Waffe zu tragen."
Dass jetzt Mitarbeiter Waffenscheine ausgeben, die bislang damit nichts zu tun hatten, stößt aber auch auf Kritik. Der Sicherheitsausschuss forderte Ben-Gvir auf, die Praxis zu stoppen, doch dieser will weitermachen. Am Sonntag trat dann der Chef der Waffenscheinbehörde zurück, berichtet die "The Times of Israel" – offenbar aus Protest gegen die laxe Handhabung bei der Ausstellung der Dokumente.
Premierminister Benjamin Netanjahu unterstützte jedoch Itamar Ben-Gvirs Politik auf einer Pressekonferenz: "Die Anwesenheit bewaffneter Zivilisten hat in vielen Fällen Menschen gerettet und eine größere Katastrophe verhindert."
Waffenschein gibt es ab 21 Jahren
Mitte Oktober lockerte der Nationale Sicherheitsausschuss der Knesset die Kriterien für die Beantragung eines Waffenscheins. Mit den neuen Schusswaffenvorschriften werden die Anforderungen für den Erwerb einer Schusswaffe gesenkt, sodass Männer über 21 Jahre einen Waffenschein erhalten können, wenn sie ein Jahr lang im Kampf gedient oder zwei Jahre allgemeinen Militärdienst geleistet haben.
Frauen können einen Waffenschein erhalten, wenn sie als Alternative zum Militärdienst ein Jahr Nationaldienst leisten und in einem Gefahrengebiet leben oder arbeiten. Nach den bisherigen Bestimmungen mussten alle Bewerber entweder einen vollständigen Militär- oder einen zweijährigen Wehrdienst ableisten oder bis zum Alter von 27 Jahren warten, um sich bewerben zu können.
Verbündete sorgen sich um radikale Siedler
Während in den USA das Tragen einer Waffe in vielen Staaten als Teil des Freiheitsverständnisses angesehen wird, geht es in Israel zunächst vorrangig um den Kampf gegen Terroristen. Das Justizministerium hat dem "Times of Israel"-Bericht zufolge vorgeschlagen, die Lockerungen auf ein Jahr zu begrenzen. Doch das stieß auf Widerstand von Ben-Gvir und dem Sicherheitsausschuss.
Im Westjordanland dürften die Erleichterungen bei den Waffenscheinen bei einigen Siedlern mit Erleichterung aufgenommen werden. Denn hier sind die Spannungen groß, fast täglich kommt es zu Zusammenstößen zwischen israelischen Truppen und Palästinensern. Diese werden auch noch dadurch angeheizt, dass radikale israelische Siedler bewaffnete Angriffe durchführen. Das verärgert Israels Verbündete. Die USA wollen radikalen Siedlern keine Visa mehr ausstellen. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) will mit ihren EU-Kollegen über Sanktionen gegen gewaltbereite israelische Siedler beraten.
Das Auswärtige Amt begrüße, dass die USA "nun konkrete Maßnahmen in Form von Einreisebeschränkungen angehen werden", sagte ein Sprecher Baerbocks am Mittwoch in Berlin. Es sei "wichtig, diese Debatte auch auf europäischer Ebene voranzutreiben." Deutschland werde sich dazu beim EU-Außenministertreffen am Montag aktiv einbringen.
Doch diplomatische Einschränkungen für radikale Siedler werden den Ruf nach Waffen für israelische Bürger kaum leiser werden lassen. Sicherheitsminister Ben-Gvir gilt als rechter Hardliner, der 2007 wegen Aufhetzung und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verurteilt wurde. "Er ist ein populistischer Demagoge. Er spielt mit den Gefühlen des Hasses und der Angst vor Arabern", sagte Shuki Friedman vom Jewish People Policy Institute der "New York Post". Den ohnehin schon von den Hamas-Angriffen geschockten Israelis weiter Angst zu machen, dürfte die Anfragen nach Waffenscheinen ebenso beflügeln wie die Popularität des rechten Politikers.
- timesofisrael.com: "260,000 firearm permits sought since Oct. 7, after Ben Gvir’s push to arm civilians" (english)
- npr.org: "Israel is trying to arm more citizens with guns since the Hamas attack" (englisch)
- nypost.com: "‘Must protect myself’: Israelis arm themselves in wake of Hamas attack" (englisch)
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa