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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Flugzeugabsturz Ein Hakenschlag zu viel?
Jewgeni Prigoschin soll bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen sein. Der einstige Warlord war spätestens seit dem "Marsch auf Moskau" in Gefahr. Hat Putin nun Vergeltung geübt?
Wladimir Putin ist bekannt dafür, Gegner aus dem Weg zu räumen. Doch eigentlich ging er dabei zuletzt eher leise vor, Generäle wurden ihrer Posten enthoben und an entlegene Orte versetzt, wenn sie sich zu laut über die Armeestruktur beklagen. So war es bei Iwan Popow. Andere kamen in Haft, zumindest vorübergehend, und mussten danach ihren Posten räumen, das erlebte wohl Sergej Surowikin. Beide waren außerordentlich beliebt in der Armee – nur eben bei der entscheidenden Person in Ungnade gefallen: bei Kremlherrscher Putin.
Und nun ein Flugzeug? Einiges deutet derzeit darauf hin, dass Jewgeni Prigoschin bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen ist (mehr dazu lesen Sie hier). Der wagnernahe Telegram-Kanal Grey Zone vermeldet bereits seinen Tod. Prigoschin war noch bis Ende Juni dauerpräsenter Warlord in der Ukraine, wo er für die russische Seite kämpfte. Dort übte er allerdings auch nahezu täglich heftige Kritik an der Militärführung und tat dann einen Schritt, den Russland kurz an den Rand des Bürgerkriegs brachte: Er marschierte mit seinen Söldnern auf Moskau zu und führte Putin damit vor, wie es kein anderer zuvor gewagt hatte.
Nun berichteten am Mittwochabend zunächst Militärblogger, kurz darauf russische Medien, dass ein Privatflugzeug des wohl milliardenschweren Prigoschin auf dem Weg von Moskau nach Sankt Petersburg abgestürzt sei. Von einer "Katastrophe" schrieb die Staatspropaganda-Agentur Tass. Der 62-Jährige selbst stand nach Angaben der staatlichen Luftaufsicht auf der Passagierliste, insgesamt sollen zehn Menschen gestorben sein.
Ob Prigoschin selbst tatsächlich an Bord war, ließ sich zunächst nicht bestätigen. Aber auch eine ganz andere Theorie kursierte am Mittwochabend in sozialen Medien – dass Prigoschin seinen Tod womöglich vortäuscht. Dies wiederum könnte ein Exit-Versuch sein: Hielte die Welt Prigoschin für tot, könnte er sich unter anderer Identität ein neues Leben aufbauen. Auch diese Theorie lässt sich derzeit allerdings nicht belegen.
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Prigoschins Leben war in jedem Fall spätestens seit dem 24. Juni in Gefahr. Als er den "Marsch auf Moskau" seiner Söldner in Bewegung gesetzt hatte, war schnell klar: Einen solchen Angriff auf seine Autorität als Oberbefehlshaber der Armee, als Präsident Russlands, konnte Putin nicht dulden. Die Frage war, wie er Vergeltung üben würde. Und wann.
Was dann folgte, glich einem Spiel mit dem Feuer. Der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko intervenierte und sollte Prigoschin eigentlich ins Exil nach Belarus holen; seine Kämpfer sollte er mitnehmen oder ihnen den Weg in die russische Armee zeigen.
Nahm Prigoschin das nicht ernst? Oder ließ Putin ihn gewähren? Fest steht, Prigoschin zeigte sich in den Wochen danach mehrmals in der Öffentlichkeit.
Foto in St. Petersburg, Video in Afrika
Einmal trat er in St. Petersburg sogar am Rande eines Gipfels mit Vertretern afrikanischer Staaten auf. Putin selbst war zu dem Gipfel angereist, etwas abseits der Tagungsräume schüttelte Prigoschin dem Botschafter der Zentralafrikanischen Republik für ein Foto die Hand. Das Bild fand kurzerhand den Weg ins Internet. Und es wirkte, als provozierte Prigoschin Wladimir Putin einmal mehr.
Zugleich mutmaßten Kremlkenner, Putin habe Prigoschin auch in diesem Fall gewähren lassen. Schließlich sind die Truppen des Wagner-Chefs in mehr als einem Dutzend Ländern Afrikas präsent und Russland setzt auf Prigoschins Männer auf dem Kontinent. Das Signal könnte gewesen sein: Auch wenn sich die beiden überworfen haben – Russland hält an seinem Engagement in Afrika fest.
Dann wieder ein Hakenschlag: Plötzlich zeigte sich Prigoschin am Montag per Video in Afrika. Er gab sich kämpferisch in Tarnkleidung und mit Hand am Gewehr. Trotzdem warf sein Auftritt die Frage auf: Hatte er also doch das Weite gesucht, um sein Leben zu schützen? An der russischen Front in der Ukraine war er nicht mehr sicher, so viel stand fest. In Belarus gab es offenbar für ihn nichts zu tun. In Russland hätte er jederzeit festgenommen oder unter mysteriösen Umständen verschwinden können.
Nun ist sein Privatflieger am Mittwoch anscheinend abgestürzt, fast genau zwei Monate nach dem Aufstand seiner Truppen. Ob Prigoschin das Spiel mit dem Feuer zu weit getrieben hat, weiß allerdings wohl nur der Machthaber im Kreml.
- Eigene Recherchen
- twitter.com: Beiträge von Igor Sushko, Kevin Rothrock (englisch)