Massentötungen an saudischer Grenze "Sie schießen mit Granaten auf Frauen und Kinder"
Die saudische Grenzpolizei geht offenbar mit extremer Gewalt gegen Flüchtlinge vor. Hunderte sollen seit 2021 getötet worden sein, doch es könnten noch viel mehr sein.
Etwa 750.000 Äthiopier leben und arbeiten in Saudi-Arabien, aber ihr Weg in den reichen Ölstaat ist extrem gefährlich. Die meisten Einwanderer aus dem ostafrikanischen Land reisen über den Golf von Aden und das Bürgerkriegsland Jemen nach Saudi-Arabien ein – wenn sie es dort an der Grenzpolizei vorbei schaffen, die auch von der deutschen Bundespolizei ausgebildet wird. Jetzt wirft die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) den saudischen Grenztruppen schlimmste Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor.
Die saudischen Beamten sollen an der Grenze zum Jemen systematisch mit Maschinengewehren und Granaten auf Geflüchtete schießen und zwischen März 2021 und Juli 2023 Hunderte Menschen getötet haben. "Wir sprechen von mindestens 655 Fällen, aber wahrscheinlich sind es Tausende", sagte Menschenrechtlerin Nadia Hardman der BBC. "Es handelt sich um weit verbreitete und systematische Verstöße, die sich zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit auftürmen. Wir reden im Grunde von Massentötungen", so die Hauptautorin des HRW-Berichts.
"Bewusste Eskalation der Gewalt"
Für ihren Bericht hat die Menschenrechtsorganisation mit 42 Überlebenden und Opfern von Angehörigen gesprochen. Auch Fotos und Videos von Geflüchteten sowie Satellitenbilder hat die Organisation ausgewertet. Autorin Hardman spricht von "obszönen" Befunden: "Ich befasse mich schon lange mit Gewalt an Grenzen, aber so etwas ist mir noch nicht begegnet, sogar auf Frauen und Kinder schießen sie mit Granaten." Auf Bildern von Geflüchteten habe sie "furchtbare Verletzungen" und Explosionswunden beispielsweise von Mörsergranaten gesehen, so Hardman.
Überlebende würden von regelrechten "killing fields" berichten, von Stellen, die komplett übersät seien mit toten menschlichen Körpern. Auf Satellitenbildern seien Hunderte Gräber, Leichen und schwer verletzte Menschen entlang der Routen zu sehen, über die Geflüchtete Saudi-Arabien erreichen. "Seit 2014 haben wir immer Tötungen an der saudischen-jemenitischen Grenze dokumentiert, aber dieser Bericht zeigt ein neues Ausmaß und eine bewusste Eskalation der Gewalt", sagt Nadia Hardman. "Wenn dies im Auftrag der saudischen Regierung geschieht, handelt es sich um Verbrechen gegen die Menschlichkeit."
"Nur zehn Leute haben überlebt"
Von einem besonders grausamen Angriff berichtet die 20-jährige Munira. Mit 19 anderen Geflüchteten hätten die Saudis sie erst in einem Bus zurück an die Grenzen zum Jemen gebracht und dort in die Wüste gescheucht. Nach etwa einem Kilometer habe sich die Gruppe hingesetzt, um sich auszuruhen. Dann hätten die Saudis die Gruppe mit Mörsergranaten beschossen. "Die Waffe sah aus wie ein Raketenwerfer mit sechs Läufen und war auf ein Auto montiert, er schoss gleich mehrere Granaten auf einmal ab", berichtet Munira. "Einige der Granaten trafen die Felsen und die Splitter trafen uns. Nur zehn Leute aus unserer Gruppe haben überlebt."
Traumatisch klingt auch der Bericht der 14-jährigen Hamdiya: "Immer wieder haben sie auf uns gefeuert. Ich sah, wie Menschen auf unvorstellbare Weise getötet wurden. Ich habe mich unter einem Felsen versteckt und geschlafen. Ich dachte, um mich herum würden noch andere Menschen schlafen. Als ich aufwachte, sah ich, dass sie alle tot waren. Ich war allein." Es sind nicht die ersten Vorwürfe dieser Art gegen Saudi-Arabien.
Linke fordert Kurswechsel der Bundesregierung
Die Internationale Organisation für Migration sprach im Juni von mindestens 795 Menschen, die seit 2017 an der saudisch-jemenitischen Grenze durch Gewalt zu Tode kamen. Riad hat die Vorwürfe in der Vergangenheit zurückgewiesen. Zum jüngsten Bericht von Human Rights Watch hat sich die Regierung von Machthaber Mohammed bin Salman bislang nicht geäußert. Die britische Regierung von Premierminister Rishi Sunak will bin Salman "bei nächster Gelegenheit" in London empfangen, teilte 10 Downing Street kürzlich mit.
Es wäre der erste Besuch bin Salmans in Großbritannien seit dem Mord an dem saudischen Journalisten Jamal Kashoggi 2018. Ein saudisches Killerkommando tötete Kashoggi bei dessen Besuch in der saudischen Botschaft in Istanbul. Laut westlichen Geheimdiensten gab bin Salman den Mord persönlich in Auftrag. Die Bundesregierung setzte daraufhin die Zusammenarbeit mit den saudischen Grenztruppen aus. Seit 2020 bilden Beamte der Bundespolizei saudische Grenzbeamte wieder aus.
Das Auswärtige Amt hat inzwischen auf den Bericht reagiert: "Wir sind sehr besorgt über die dort aufgeführten massiven Vorwürfe", sagte eine Sprecherin des Außenministeriums. Man verfüge aber über keine eigenen Erkenntnisse zu den geäußerten Vorwürfen. Die Linken-Bundestagsabgeordnete Clara Bünger forderte einen Kurswechsel gegenüber Saudi-Arabien. "Wer von sich selbst behauptet, feministische Außenpolitik sei wichtig, macht sich unglaubwürdig, wenn man Staaten wie Saudi-Arabien mit Waffen unterstützt, die Menschen barbarisch an ihrer Grenze abschießen", sagte Bünger "Table Media".
- hrw.org: "They Fired on Us Like Rain" (englisch)
- bbc.com: "Hundreds of migrants killed by Saudi border guards – report" (englisch)
- theguardian.com: "‘Fired on like rain’: Saudi border guards accused of mass killings of Ethiopians" (englisch)
- infomigrants.net: "IOM: 3,800 deaths recorded on migrant routes from MidEast, North Africa" (englisch)
- Material der Nachrichtenagenturen Reuters und dpa